Tobias Renggli, Torge Fahl, Charles Bouche, Daniel Schürch
Die Grenzen des Machbaren erfahren und bewusst überschreiten: Tobias Renggli hat in kaum mehr als 200 Tagen aus eigener Kraft die Hauptstädte und höchsten Gipfel (fast) aller europäischen Länder bereist.
Ich treffe den jungen Ausnahmesportler für ein Gespräch über Reisen, Abenteuerlust und Motivation am Pilatus in Luzern ...
Tobias, wie kommt ein damals 18-Jähriger auf die Idee zu solch einer Reise?
(lacht) Weil es grad passte und sich richtig angefühlt hat. Ich denke, Pausen in einer Biografie laden zu Abenteuern ein und meins sah halt so aus. Wenn man die Hauptstadt und den höchsten Punkt eines Landes besucht, bekommt man schon einen guten Eindruck und sieht viel.
Aber gleich aus eigener Kraft mit dem Velo und zu Fuss?
Ach, ein Velo hatte ich schon und ich empfinde es als das ideale Fortbewegungsmittel: schnell genug, um Strecke zu machen; langsam genug, um die wechselnden Landschaften intensiv zu erleben. Kein Blech drum herum, kein Lärm, einfach nur der Fahrtwind und die Gerüche der Umgebung. Und auf die höchsten Berge gehts eben nur zu Fuss.
Okay, trotzdem hätten längst nicht alle den Mut für so ein Abenteuer.
Tobi lässt den Blick in die Ferne schweifen, ganz als suche er die richtigen Worte. Er wirkt reif für sein Alter. Seine Worte sind mit Bedacht gewählt und man spürt, wie ihn die zurückliegende Reise geprägt hat. Er macht Pausen, wägt seine Worte ab und mustert gedankenverloren das Spiel der Wolken am Himmel.
Als ich zwölf war, hat ein plötzlicher Todesfall in meinem Umfeld mein Leben auf den Kopf gestellt. So ein prägendes Ereignis macht etwas mit dir. Seither bin ich mir der Endlichkeit des Lebens sehr bewusst. Ich brauche Leidenschaft und Grenzerfahrung, kein 08/15-Leben. Ich will mir nicht später vorwerfen: «Hätte ich doch mal …» Mit 16 gings dann richtig los mit den Abenteuern: Für meine Matura-Arbeit habe ich alle 250 Schweizer Städte besucht und die höchsten Berge aller Kantone bestiegen. Das war ein vergleichbares Projekt – nur in Klein – und hat den Hunger geweckt. Nach der Matura dachte ich mir: Hey, da gibts ja noch mehr! Und eine Woche nach dem Militärdienst bin ich losgefahren.
Moment, muss man so eine monumentale Reise nicht akribisch planen?
Für mich beginnt ein Abenteuer dann, wenn die Planung aufhört. Bei so einem Mammutprojekt kannst du eh nicht mehr als ein paar Tage im Voraus planen. Ich habe mir eben 44 Länder mit je zwei Orten – Hauptstadt und höchster Gipfel – herausgesucht, das macht rund 90 grobe Fixpunkte. Das diente aber mehr als Checkliste, um nicht völlig ziellos durch Europa zu reisen. Im November bin ich mit dem Velo los Richtung Süden und der Rest ist Geschichte.
Was hattest du an Gepäck dabei?
Ich hab mich auf das Nötigste beschränkt, also Velo, Schlafsack, Isomatte, Klamotten, etwas Bergausrüstung und ein Paar feste Trailrunningschuhe. Erst leichtes und weniges Equipment macht solche Reisen möglich. Manche mögen sagen, dass ich den Eispickel hätte zu Hause lassen können, aber ich würde ihn jederzeit wieder mitnehmen. Er ist zum schützenden Begleiter geworden: beim Bergsteigen und zum Abschrecken wilder Hunde.
Auch heute ist Tobias leicht unterwegs: Nur in Trailrunnern, mit einer kurzen Hose und dünnen Jacke bekleidet, bewegt er sich agil durch das Gelände. Routiniert greift er zum Pickel am Rucksack, um steile Passagen im Schnee zu passieren. Nach sieben Monaten Reisen wirkt er weder müde noch ist sein Tatendrang gebrochen.
Wie sah deine Reise denn konkret aus?
Also im Wesentlichen: aufwachen, Velo fahren, schlafen. Dazwischen mal ein Berg oder eine Stadt. (lacht) Wenn du morgens um fünf aufstehst, dann kannst du eigentlich überall übernachten. Ich habe in meinen Radklamotten geschlafen, die Jacke war das Kopfkissen. So ist man in zehn Minuten wieder unterwegs. Dann fährst du den ganzen Tag Velo, hältst mal an, machst ein Foto oder plünderst einen Supermarkt. Danach gehts bis Mitternacht weiter. Schlafplatz suchen, Isomatte auspacken und in den Schlafsack geschlüpft. Unter Brücken lässt sich passabel nächtigen, eine Bushaltestelle kommt schon fast einem Hotelzimmer gleich.
Tönt anstrengend. Wie oft bist du an deine Grenzen gestossen?
Jeder Tag war eine Grenzerfahrung. Aber einige Erlebnisse bleiben besonders in Erinnerung: An der Grenze zu Belarus wurde ich verhaftet; in Albanien hat mich ein Hund gebissen und ich musste ins Krankenhaus; in der Türkei gab es eine kräftige Lebensmittelvergiftung und in Griechenland hatte ich so einen Sonnenstich, dass ich nicht mehr wusste, wo oder wer ich bin. Und dann war da noch die Sache mit dem Drogenhändler …
Drogenhändler, wie bitte?!
Ich war in Montenegro unterwegs, als mich ein Autofahrer zu sich nach Hause eingeladen hat. Sein Heim stellte sich als entlegene Hütte im Wald heraus. Dort hat er sich mit seinem Bruder nach allen Regeln der Kunst betrunken. Danach hat er mir sein Marihuanafeld gezeigt und diverse Schusswaffen unter der Couch hervorgezogen.
Hattest du keine Angst, dass dir etwas zustossen könnte?
Wohl habe ich mich in dem Moment nicht gefühlt, aber es ist ja noch mal glimpflich abgelaufen. Zudem kann dir überall etwas passieren. Besonders in Städten und auf Strassen reicht ein Autofahrer, der dich übersieht. Da schätze ich die Berge. Auch die bergen ihre Risiken, aber das hast du selbst in der Hand. Ehrlich gesagt halte ich ein absolut sicheres Leben für eine Illusion.
Wir gehen weiter: Der braune Wuschelkopf hüpft hin und her, mit kraftvollen, gleichmässigen Schritten läuft er den Grat entlang. Weder die Höhe noch die Steigung scheinen ihn zu bremsen. Tobias strahlt eine unbändige Energie aus.
stammt aus Buchrain bei Luzern und studiert Gesundheitswissenschaften und Technologie an der ETH in Zürich. Daneben hält der wettkampferprobte Bergläufer Vorträge über seine Europareise.
tobiasrenggli.ch
@tobiasrenggli
Hast du bei 204 Tagen Abenteuer nicht manchmal ans Aufgeben gedacht?
In Norwegen steckte ich zwei Wochen im Regen, da wurde meine Kleidung gar nicht mehr trocken. In Schweden musste ich mich 20 Kilometer durch einen Schneesturm kämpfen, um den Kebnekaise zu erreichen – nur um dann knapp unter dem Gipfel wegen schwieriger Witterungsverhältnisse umzukehren. Am finnischen Haltitunturi steckte ich plötzlich in so einem Whiteout, dass ich mich völlig verlaufen habe. Mit Glück konnte ich meine eigenen Spuren wiederfinden, sonst würde ich wahrscheinlich jetzt noch im Kreis laufen … Aber es war ja nicht nur hart, sondern auch unglaublich schön und auf ganz vielen Ebenen bereichernd. Ausserdem musste ich ja irgendwie zurück nach Hause – da war es leichter, einfach weiterzumachen!
Wie haben Grenzerfahrungen und Einsamkeit dich verändert?
Das können andere bestimmt besser beurteilen. Ich bin aber sicher etwas selbstbewusster geworden. Aber ich ruhe auch mehr in mir, bin gelassener und zugleich offener für neue Eindrücke. Wenn man so lange allein unterwegs ist, dann hat man eben Zeit zum Nachdenken und zum Reflektieren – gleichzeitig aber auch ständig was zu tun. Ich konnte meine Gedanken also auch immer wieder gut einfangen! (lacht)
Hast du unterwegs spannende Begegnungen gemacht?
Wenn man so jung mit dem Velo 35’000 Kilometer durch Europa fährt, einen Eispickel auf dem Rücken – da werden die Menschen neugierig und stellen Fragen. So wurde ich in Portugal verwundert angesprochen, was ich denn mit dem Eisgerät so weit im Süden verloren hätte – und kurz darauf nach Paris eingeladen. In Griechenland am Olymp habe ich Toni kennengelernt: Der war zwar schon 65, bis dahin aber noch nie in seinem Leben verreist. Er hat sich seinen Traum vom Bergsteigen verwirklicht, indem er zwei Kühe verkauft hat und einfach losgefahren ist.
Sind dir auch bestimmte Orte besonders in Erinnerung geblieben?
Schwierige Frage. London, Paris oder Lissabon sind natürlich beeindruckende Metropolen, besonders wenn man sich durch die Vorstädte langsam ins Zentrum vortastet. So baut sich die Stadt wie ein Crescendo langsam auf – im völligen Kontrast zu einer Flugreise. Besonders sind mir Orte in Erinnerung geblieben, die weniger populär und bekannt sind: etwa Sarajevo, Warschau, oder Albanien und Montenegro. Die lokale Gastfreundschaft ist unvergleichlich und durch die wenigen Touristen haben die Städte und Länder ihren Charakter bewahrt.
Was war rückblickend der absolute Höhepunkt auf deiner Reise?
Der letzte Gipfel war schon etwas ganz Besonderes. Ursprünglich wollte ich den Mont Blanc besteigen, aber die schwierigen Verhältnisse im Sommer und eine hohe Steinschlaggefahr liessen das nicht zu. Es ist unheimlich frustrierend, wenn man so weit kommt und dann das letzte Teil in diesem gigantischen Puzzle fehlt. Alternativ habe ich mich für den Gran Paradiso entschieden, den höchsten Berg, der vollständig in Italien steht. Der Gipfel war nicht sonderlich schwierig, sodass ich ihn allein bestiegen habe. Ich befand mich für 204 Tage weit ausserhalb meiner Komfortzone und hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich das schaffe. Dann auf dem Gipfel zu stehen, die ersten Strahlen der Sonne zu geniessen und zu wissen, dass ich allen Herausforderungen und Selbstzweifeln zum Trotz diese Reise gemeistert habe – das war ein wirklich erfüllendes Gefühl.
Was würdest du bei deiner nächsten Reise anders machen?
Ich würde mir mehr Zeit nehmen. Ich bin jeden Tag etwa 200 Kilometer gefahren. Im Schnitt macht das nur vier Tage pro Land. Bei so vielen Erlebnissen, Orten und Begegnungen war ich manchmal völlig reizüberflutet.
Du erzählst auf Vorträgen von deiner Reise – was erwartet das Publikum?
Nebst zahlreichen Anekdoten und Eindrücken nehme ich das Publikum mit auf eine multimediale Stunde zu Fehlerkultur, Risikoabwägung, Grenzerfahrungen und Höchstleistung. Ich habe auf meiner Reise eine Menge gelernt und möchte das gern weitergeben. Ich will den Menschen aber mehr bieten als blosse Unterhaltung. Ich geniesse den Austausch mit Gleichgesinnten, gleichzeitig verarbeite ich die Reise so noch einmal.
Was würdest du jemandem raten, der Lust auf ein ähnliches Abenteuer hat?
Der Antrieb muss stimmen. Die Motivation muss zu 100 Prozent von innen kommen. Ansonsten würde ich nicht zu akribisch planen, das nimmt einer Reise den abenteuerlichen Charakter. Mach dir nicht zu viele Gedanken zur Route, aber probiere dein Material aus. Schliesslich muss das alles stimmen und kann am Ende über das Scheitern oder Gelingen deiner Reise bestimmen. Ein ganz konkreter Tipp: Das Absägen der Zahnbürste bringt keinen wesentlichen Geschwindigkeitsgewinn! (lacht)
Wie geht es für dich nun weiter?
Derzeit habe den Fahrradsattel gegen den Hörsaal getauscht. Ich habe ein Studium in Zürich begonnen, aber mein Drang, neue Sachen auszuprobieren, ist ungestillt. Auch habe ich noch eine Rechnung offen mit dem Mont Blanc! Ich kann nicht sagen, wie es weitergeht und kenne auch das Ziel nicht. Ich habe nur das Gefühl, dass meine Richtung derzeit stimmt.
(Mit der TransaCard immer kostenlos)