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Kinder spielen im Wald – Dreck ist auch nur Erde

Eine Gruppe Kinder sitzt an einem Holztisch am Wald, ein Mann zeigt etwas.
Somara
Marketing, Office Zürich
© Fotos

In seiner Waldspielgruppe «Zwergenberg» wagt sich Transianer Fabian jeden Dienstagmorgen mit einer wilden Bande Drei- bis Vierjähriger ins dorfeigene Unterholz. Sein Mantra: Kinder gehören in den Wald.

Das Vogelgezwitscher im Dorfwald wird auf­gemischt von schnellen, leichten Schritten, hohen Stimmen und raschelnde­­n Windjacken. Es ist wiede­­r Dienstagmorgen und die zwölf Klein­kinder sammeln sich um Fabian und Brigitte, die Waldspielgruppenleiter. Los gehts – wie immer – mit dem Begrüssungslied: Dann wird in der Feuerstelle am Waldrand ein Lagerfeuer entfacht, das Gross und Klein einmal mehr in seinen Bann zieht. In ein paar Stunden wird auf seiner Glut der Znüni gebrätelt, aber bis dahin heisst es: Spielen. Und das ganz frei, ohne klassisches Spielzeug.

Vor zwei Jahren gegründet, ermöglicht die Waldspielgruppe das, was vielen Kindern heutzutage verwehrt bleibt: das Eintauchen in die echte Natur. Für Fabian ist es die Erfüllung eines Traumes. Als Papi von Giulia und Yanis, sieben und fünf, beschäftigt ihn die Natursozialisierung der Kleinsten seit dem Moment, als seine Frau Petra und er ihr erstes Kind bekamen. «Als Vater versuche ich, die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Was gibt es zu entdecken, zu lernen, zu spielen? In der Waldspielgruppe darf ich diesen Entdeckergeist noch mehr Kindern ermöglichen.»

Draussen ruft das Abenteuer

Wenn Fabian nicht gerade die Waldspielgruppe begleitet oder mit der eigenen Familie mit Zelt, Velo und Wanderschuhen draussen unterwegs ist, begegnet man ihm in der Filiale in St. Gallen, wo er Menschen in verschiedensten Lebensphase­­n berät – von der Single-Weltreise bis zum Ein­kleiden der ersten Kinder. Hier fiel ihm auf, wie während der Corona-Zeit Familien­ausflüge in regional­­­e Wälder und Felder an Popularität gewannen. «Der grösste Abenteuerspielplatz, der Wald, ist für Schweizer Familien oft nur einen Katzensprung entfernt. Und trotzdem haben viele Kinder ihn noch kaum erforscht. Mir ist wichtig, dass die Generation von morgen den Wald kennen und respektieren lernt.»

Regenjacken für Kinder

Am Waldrand geht es derweil zu wie im Bienenstock: Yannis und Nick spielen Ritter und jagen auf unsichtbaren Pferden Dieben hinterher. Lisa und Jerome haben Eichelhütchen für ein Memory gesammelt. Eine Gruppe von Kindern scharrt sich um Fabian, der zeigt, wie man mit einem Feuerstein ein Büschel Reisig in Flammen setzt. Hochkonzentriert und mit unerwartetem Mut machen es ihm die Kleinen nach. «Ein Feuer kann gefährlich sein. Umso wichtiger ist es mir, dass ihr den sicheren Umgang damit kennt», erklärt Fabian.

Er beobachtet, wie Kinder den Wald ganz anders wahrnehmen als Erwachsene. «Sie sind durch ihre Grösse näher am Boden und achten mehr auf kleine Insekten und Pflanzen.» Damit diese Entdeckerlaune nicht gehemmt wird, sind Spiel­zeuge, die in den Wald mitgebracht werden, im «Zwergenberg» nicht so gern gesehen. Es gab Kinder, die zu Begin­n ihre eigenen Spielsachen mitbrachten. Sie merkten aber von selbst, dass sie diese nicht benötigen, weil der Wald so viel mehr bietet.

Vor lauter Bäume sich selbst sehen

Doch nicht nur das Erkunden der Natur, sondern auch das Kennenlernen von sich selbst wird draussen automatisch gefördert. Christa Zeilinger ist bei Planoalto seit 20 Jahren in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Als ehemalige Primarlehrerin, Mami von zwei und Outdoor-Guide weiss sie, warum Kinder Naturerfahrunge­­n brauchen: «Wir sind Natur. Wenn Kinder die Natur entdecken, kann ihnen das nur zugute­kommen. Es fördert ihre mentale, soziale und physische Entwicklung enorm.»

  • Ein Mädchen und zwei Jungen im Wald am spielen, sie haben Tannzapfen und ähnliches in Eierkartons gesammelt.
    Foto © Somara Frick
  • Szene im Wald: Ein Mann hilft einem Mädchen, ein  Streichholz zu entzünden. Im Hintergrudn sieht man weitere Kinder.
    Foto © Somara Frick
  • Ein Mann hilft einem Kind mit einem Feuerstahl Feuer zu machen.
    Foto © Somara Frick
  • Ein Mann mit Gitarre, er singt ein Lied. Um ihn herum stehen Kinder. Die Szene findet im Wald statt.
    Foto © Somara Frick
  • Ein Mädchen im Wald, es spielt mit einer selbst gebauten Schaukel.
    Foto © Somara Frick

Mentale Aspekte sind – genau wie bei uns Erwachsenen – reduzierter Stress, Selbstwahrnehmung und Wohlbefinden. Soziale Entwicklungsschritte bieten sich in der Gruppe: die Kooperation, um einen Baum zu erklimmen, ebenso wie das Teilen gefundener Beeren und im Austausch mit andere­n die Sprache. Kalt haben, den Wind spüren, mal nass werden und das Gleichgewicht beim Balancieren über den Bach nicht verlieren stärken Selbstgefühl und Immunsystem.

Mehrfach beobachtet Christa, wie Kinder, die neu im Wald unterwegs sind, beim Gehen über Wurzel­­n und Steine stolpern. Ihre Motorik passt sich dem Untergrund jedoch schnell an und bald sind sie trittsicher unterwegs. «Lerneffekte wie dieser stärken das Selbstvertrauen und die Wahrnehmung, den Bezug zum eigenen Körper. Drinnen wissen Kinder automatisch, wo die räumlichen Grenzen sind. Draussen lösen sie sich auf und ein Kontextwechsel findet statt, der ein anderes ‹Sich-Zeigen› ermöglicht.»

Im Spiel ganz Mensch

Weil draussen die künstlichen Spielsachen von zuhause wegfallen und in der Waldspielgruppe das Zusammensein mit Gleichaltrigen ohne das wachsame Auge der eigenen Eltern möglich ist, erlebt Fabian die Gruppendynamik als befreiend. «Ich sehe, wie die Kreativität unglaublich stark an­gekurbelt wird. Und ich glaube, dass Kinder im sorglosen Spiel automatisch die Sprachfähigkeit verbessern, ihren Platz in der Gruppe finden und sich entfalten können. Routinierte Spiele mit vielen Wiederholungen wie zum Beispiel Schaukeln oder Ballspiele werden durch Rollenspiele ersetzt. Wenn Kinder spielen, sind sie ganz sie selbst.»

In der Waldspielgruppe sind Brigitte, Fabian und die zwölf Zwerge nur etwa drei Stunden pro Woche miteinander draussen. Trotzdem wird ein Spiel nach dem anderen gespielt, die Geschichte von den Zwergen Schnigg und Schnagg wird einmal mehr im selbstgebauten Waldsofa erzählt und es bleibt Zeit für ein nicht zu knappes Znüni. Wieder­hol­ungen und Routinen wie Singen, Feuermachen und Zvieri-Zeit sind wichtige Anhaltspunkte und strukturieren den Waldmorgen für diejenigen Kinde­­r, die das stärker brauchen als andere.

Für Fabian ist sein Engagement in der Waldspielgruppe nichts, dessen Motivation er schon einmal bewusst formuliert oder gar hinterfragt hat. Es habe etwas gebraucht im Dorf, als eine andere Waldspielgruppe ihre Türen schliessen musste. Auch war Fabian ländlich aufgewachsen und dahe­­r kam es für ihn ohnehin nie infrage, die Freizeit mit den eigenen Kindern von den Grenzen des eigenen Gartens einschränken zu lassen. «Für meine Kinder war es viel eindrücklicher, draussen zum ersten Mal einen wilden Fuchs oder Hasen zu sehen, als im Zoo dutzende Wildtierarten hinter Gittern präsentiert zu bekommen. Es ist der Seltenheitswert. Und draussen ist alles einzigartig, ein Unikat. Besonders bei vermeintlich schlechtem Wetter erwacht in der Natur vieles erst. Man muss sich einen Ruck geben, die Kinder richtig an­ziehen und rausgehen, aber ich habe es kein einziges Mal bereut.» Ausser bei Sturmwarnungen gibt es in der Waldspielgruppe «Zwergenberg» keinen Grund, den wöchentlichen Waldbesuch ausfallen zu lassen.

Gut für die Entwicklung

Fabians Lieblingszeit in der Waldspielgruppe ist das Ende des Schuljahres. Im Sommer wechseln seine Schützlinge in den Kindergarten. Und das macht ihn stolz: «Ich durfte über ein ganzes Jahr lang zusehen, wie sich die zwölf entwickelt habe­n. Wie sie Ängste und Ekel vor Insekten abgebaut, Mut zum Feuermachen zusammengenommen, Freundschaften geknüpft und den Wald auf ihre eigene Art kennengelernt haben.»

Das Abschiedslied beendet den Waldmorgen für diese Woche. Das Feuer wird erstickt, Ritter-Schwerter werden wieder zu gewöhnlichen Ästen und die Memory-Eichelhütchen auf dem Boden verstreut. Sorglos, mit roten Wangen und mit etwas mehr Energie als zu Beginn ziehen nicht nur die Spielgruppenkinder, sondern auch Fabian weiter.

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