Simon Schöpf
Ein VW-Bus, zwei neugierige Kinder, fünf Wochen Zeit: eine Entdeckungsreise durch Griechenland zwischen Kalkfelsen und kristallklaren Buchten – auf der Suche nach wilder Natur und den versteckten Wundern des Landes.
Irgendwann musste doch eine schriftliche Liste her. Skorpion, Seehase, Karettschildkröte, Gottesanbeterin, Flamingo – wir hatten die diversen Tierchen im Gedächtnis gespeichert. Aber Samuel wollte alles ordnungsgemäss dokumentiert haben und die Gesamtanzahl wissen. «Tiere in Griechenland» schrieben wir als Titel darüber, auf stolze 53 verschiedene Arten kamen wir. Denn wegen der Tierchen waren wir ja schliesslich an das Ende des Balkans gekommen, ein zoologischer Roadtrip quasi. Vielleicht auch ein bisschen wegen der fabelhaften Kalkfelsen, die es hier zu beklettern gibt. Aber das ist ein kleines Geheimnis, das nur Mama und Papa wissen.
Fünf Wochen sollten es werden, damit sich die Strecke auch lohnt und genug Zeit bleibt für ausgiebige Insekten-Feldforschung, Ornithologie und natürlich Pflanzenkunde. Deshalb war auch der Frühling unsere ausgesuchte Reisezeit, da blüht und summt alles so farbenfroh. Und, aber auch das wissen gerade nur Mama und Papa, weil im Herbst die Schule losgeht. Dann kann man eben nicht mehr so ganz einfach ausserhalb der immer heisser werdenden Sommer herumreisen. Also alles rein in den VW-Bus, was der begrenzte Platz so hergibt: Kletterseil und Kescher, Badehose und Becherlupe, Samuel (5) und Jonah (3). Und natürlich noch die viel zu volle Spielzeugkiste.
Fünf Wochen auf doch recht begrenztem Platz, fünf Wochen ohne beste Freunde, fünf Wochen quasi durchgehend in der Natur draussen – wird das die ultimative Erdung oder einfach nur stressig? Beides scheint vor der Abfahrt möglich, allein das Packen beschäftigt uns über mehrere Tage. Allerdings sind wir und die Kinder durchaus Camping-erprobt. Seit dem Babyalter sind wir mit unserem Bus unterwegs und verbringen die Ferien draussen in der Natur, nicht in Hotels. Aber fünf Wochen am Stück, das ist auch für uns durchaus ein nobles Novum.
Unser ausgeklügelter Plan lässt sich schnell zusammenfassen: Es gibt keinen Plan. Erstens kommen wir vor lauter Pack-Tetris gar nicht dazu, und zweitens wird das sowieso überbewertet, dieses «Einen-Plan-Haben». Wir wollen die Spontanität feiern und uns dahin treiben lassen, wo im besten Fall die Sonne scheint, die Blumen blühen und die Vögel zwitschern. Das Einzige, was wir im Vorfeld gebucht haben, sind die Überfahrten mit der Fähre. Der Landweg über den Balkan war uns zu weit, und ausserdem ist so eine schaukelnde Bootsfahrt samt Übernachtung auf dem Schiff für die Kinder ein aufregender Start in das kommende Abenteuer. Wir erhalten zudem einen guten ersten Eindruck von der Entschleunigung, die uns auf dieser Reise in den Süden begleiten wird.
Ankunft in Patras im Norden der Halbinsel Peloponnes nach einer etwas schaukeligen Fahrt. Als vernünftigste Option erscheint es uns, die Hafenstadt möglichst schnell hinter uns zu lassen. Wir steuern ein mittlerweile recht bekanntes Ziel an der Ostküste an, von dem wir wissen, dass es viele Felsen beheimatet: Leonidio. Die Klettereien der Gegend hat man in den letzten Jahren öfter in einschlägigen Magazinen abgelichtet gesehen. Sogar von einem «neuen Kalymnos» war hier und da die Rede. Da liegt die Latte natürlich entsprechend hoch. Aber auch Erzählungen von Freunden waren überzeugend. Nach gut drei Stunden sind wir im kleinen Dörfchen angelangt, die kurvige Küstenstrasse gibt einen guten Eindruck von dem, was uns über die nächsten fünf Wochen erhalten bleiben wird: viele Kurven, enge Strassen, langsames Fahren. Denn auch wenn sich Griechenland urlaubsmässig meist mit Inseln samt tiefblauem Meer und weissen Häuschen vermarktet – der Grossteil des zerklüfteten Landes istüberraschend gebirgig. Genau das, was wir gesucht haben!
Das schmucke Dörfchen Leonidio liegt gut vier Kilometer von der Küste entfernt, der gemütliche Campingplatz Semeli aber direkt am Kiesstrand. Entspannt leer ist es hier, Anfang April. Zwar noch meistens zu kühl zum Baden, aber auf Bäume klettern und Steine stapeln, das geht ganz wunderbar. Wir Eltern schlagen derweil den neuen Kletterführer Leonidio auf und sind erst mal: ganz schön überfordert. So viel Fels, so unendliche Auswahl! Wo nur anfangen? Eigentlich egal, denn der Fels hier hat überall Fünf-Sterne-Qualität. Von grauen Platten bis tiefroten Sinter-Überhängen – hier gibt es einfach alles, was das Kalkgestein an diversen Ausprägungen so hergibt.
Doch schnell ist nicht mehr der Klettergurt der wichtigste Gegenstand, sondern die Becherlupe. Stundenlang sammeln die Jungs alles, was krabbelt, und begutachten neugierig jedes Tierchen.
Zudem lassen sich in den überhängenden Höhlen wunderbare Seilschaukeln einhängen. Papa und Mama klettern, Kinder schaukeln – eine faire Aufgabenverteilung. Auch zünftige Frühlingsgewitter mit Sturm lassen sich hier aussitzen. Ein erster Härtetest für die Kleinen, aber wenn selbst bei Kälte und Nässe die gute Laune noch erhalten bleibt, dann stimmt die Eichung für den Campingtrip. Nach einer Stunde Sturm und Regen sind zwar alle Felsen nass, dafür kriechen nun überall geschnörkelte Schnecken herum, was mindestens genauso spannend ist. Wieder was für die Liste.
In Leonidio könnten wir gleich die ganzen fünf Wochen bleiben, so gut gefällt es uns hier. Doch Griechenland ist gross und unser Entdeckungshunger noch grösser. So ziehen wir irgendwann weiter. Wir fahren etwas weiter die Peloponnes Richtung Süden hinunter, kurven durch endloses verlassenes Hinterland und dann wieder an der Küste entlang. Hinter jeder Kurve eine menschenleere Bucht mit Traumstrand. Hängen bleiben wir für ein paar Tage in Kyparissi, auch hier kann man fantastisch klettern und danach bei George in seinem kleinen Café handgemachte Spinatstrudel geniessen. «Viele berühmte Kletterer kommen immer zu mir, Strudel essen und Wein trinken. Feiern können die, das sag’ ich dir!», erzählt der gesprächige Alte. In der Nähe seines Dorfes gibt es sogar eine Route, die heisst «Thanks George», ihm zu Ehren. Ein bisschen stolz ist er schon, wenn man ihm vorschwärmt, wie schön die markante Sinter-Linie ist. Ob er sie auch mal selbst geklettert ist? Da lacht er nur.
Einer der Sektoren ist sogar direkt am Strand, Klettern und Baden liegen hier nur zwei Minuten auseinander. Dann entdeckt Samuel bei einer Route in einem Loch ein neues Tier für die Liste, das wir allerdings lieber nicht draufgeschrieben hätten: eine Hornnatter. Er ist fasziniert, wir schauen von nun an alle Griffe noch viel genauer an.
An diesem Ort könnte man wieder locker fünf Wochen bleiben, aber … wie gesagt. Eigentlich wollen wir ja in den recht unbekannten Norden Griechenlands, Makedonien und seine Bergseen. Dazu müssen wir aber erst mal von der Peloponnes auf das «richtige» Festland wechseln. Athen lassen wir bei so viel schöner Natur rechts liegen. Stattdessen verschlägt es uns spontan auf Griechenlands zweitgrösste Insel: Euböa. Die ist so nah am Festland, dass man einfach über eine Brücke rüberfahren kann. Wir haben gehört, dass es im Bergland der Insel ein angesagtes Klettergebiet gibt, das wirklich allerneueste Kalymnos: Manikia.
Fels gibt es hier im Hinterland en masse, auch grössere Wände mit tollen Mehrseillängen. Sonst allerdings gar nicht so viel. In Manikia selbst genau eine Taverne, die man auch erst mal als solche identifizieren muss. Ausserdem gibt es eine grosse Wiese mit Ziegen drauf, auf der die Camper stehen dürfen. Fabelhafte Einsamkeit, tolle Spielmöglichkeiten: Holz für das Lagerfeuer, Ziegenknochen zum Basteln. Wir kochen derweil Pasta mit Salat, mehr braucht es in der Wildnis nicht, um glücklich zu sein.
Es folgen noch viele weitere schöne Plätze quer durch Griechenland: die Halbinsel Lefkada mit ihren surreal türkis-blauen Buchten. Das berühmte Meteora mit den noch surrealeren Konglomerattürmen samt antiken Klostern obendrauf, das trotz aller Touristenströme so einiges an Mystik bereithält. Der kleine Küstenort Mytikas mit dem tollen roten Klettergarten, von dem aus man Delfine (noch was für die Liste!) beobachten kann. Die imposante Vikos-Schlucht, der Grand Canyon Europas, mit seinen malerischen Steindörfchen ringsum. Und der Kalksteinberg Varassova, oh Varassova!
Es gibt so viel zu Entdecken. Nur in den Norden, wo wir ja eigentlich hinwollten, haben wir es dann doch nicht geschafft. Zu viel Spannendes lag am Weg, und im Gebirge war es doch noch überraschend frisch. Wie sind die Kinder drauf, so nach fünf Wochen Natur pur? Entspannt und lebensfroh, wie sie nur sein können. Genau wie die Eltern. Zumindest bis zu dem Tag, an dem ein weiteres Tier auf unsere Liste hüpfte: ein Floh.
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