Flurin Giebel
Seit Sommer 2023 reisen Kyra und Flurin auf dem Land- und Wasserweg nach Indonesien. Fernab der klassischen Touristenrouten fanden die beiden bisher vor allem eines: neue Perspektiven auf die Welt, die Menschen und das eigene Leben.
Kyra und Flurin, was ist für euch der Unterschied zwischen Ferien und Reise?
Flurin _ Bei den Ferien steht die Erholung im Mittelpunkt. Man gönnt sich was, macht Pause vom Alltag. Eine Reise dauert meist länger und wird dadurch zum Alltag – nur eben anders als zu Hause. Wir haben ein minimales Tagesbudget und sind alles andere als luxuriös unterwegs. Was in der Schweiz selbstverständlich ist, wird plötzlich zur Herausforderung: Jeden Tag aufs Neue müssen wir uns um unsere Grundbedürfnisse kümmern: Wo schlafen wir, wie kommen wir an Essen und Trinken, wie von A nach B?
Kyra _ Eine Reise bringt dich zuweilen auch an deine Grenzen. Dafür kann man sich Zeit nehmen für das Land und seine Menschen. Du musst dich auf ein komplett anderes Leben einlassen – das erweitert deinen Horizont, wirft so manche Ansichten über den Haufen und macht dich schlussendlich zu einem anderen Menschen – ob du willst oder nicht.
Also braucht es auch eine gewisse Portion Mut, sich auf eine Reise mit ungewissem Ausgang zu machen?
F _ Man muss bereit sein, die eigene Komfortzone zu verlassen und einen unkonventionellen Weg einzuschlagen. Wir sind beide total neugierig und möchten uns selbst ein Bild von der Welt machen – Länder sehen, riechen, fühlen, schmecken und mit den Menschen in Kontakt kommen. Natürlich gibt es immer tausend Gründe, die einen davon abhalten: der Job, die Wohnung, Freunde, Familie … Wir wollten uns aber nicht in 50 Jahren die Frage stellen: «Was wäre gewesen, wenn …?»
Nach ihren Bachelor-Abschlüssen in Musik und Bewegung – (Kyra) beziehungsweise Geografie (Flurin) machte sich das Paar aus Luzern auf den Weg, die Welt mit eigenen Augen zu erkunden. Updates ihrer Reise findet ihr auf Instagram: @fluringiebel
Ihr verzichtet aufs Flugzeug und reist stattdessen per Zug, Bus, Anhalter, Tuk-Tuk oder Schiff. Warum?
K _ Idealismus und Flugscham! (lacht) Im Ernst: Der erste Gedanke war tatsächlich ein ökologischer. Inzwischen ist das Erleben der Veränderung von Kulturen und Menschen von Land zu Land viel wichtiger für uns. Das langsame Reisen lässt uns tiefer eintauchen und die Dinge besser verarbeiten. Auch spüren wir durch das reduzierte Tempo die Distanzen besser und entwickeln ein Gefühl für die Grösse unseres Planeten. Ein Hintertürchen haben wir uns aber stets offen gelassen. Wenn es nicht anders geht, steigen wir auch in den Flieger. In Indien waren wir über anderthalb Monate ständig krank, inklusive Spitalaufenthalt, und kamen einfach nicht wieder auf die Beine. Physisch wie psychisch brauchten wir dringend einen Ortswechsel. Wegen des Bürgerkriegs in Myanmar kamen wir über den Landweg nicht weiter, eine Schiffsverbindung nach Südostasien gibts auch nicht. Nach langem Hin und Her sind wir dann nach Thailand geflogen. Beim Blick aus dem Kabinenfenster hat uns das Herz geblutet, weil wir wussten, dass wir gerade über ganz viele tolle Orte und Leute einfach hinwegfliegen.
Könnt ihr als «Privilegierte» aus Westeuropa den Menschen auf eurer Reise überhaupt auf Augenhöhe begegnen?
F _ Es kommt extrem auf das Land, den Ort, die Situation und das Gegenüber an. Je weniger touristisch eine Region, desto eher können wir in das echte Leben der Einheimischen eintauchen. Auf dem Weg zur Insel Hormus im Persischen Golf haben wir eine iranische Familie kennengelernt, die für eine Hochzeit angereist war. Sie luden uns ein, gemeinsam ein paar Tage auf der Insel zu verbringen. Auf dem Tuk-Tuk liessen wir uns den warmen Wind um die Nase wehen, aus schlechten Boxen chroste laute iranische Musik. Ausgelassen sangen und klatschten wir mit, obwohl wir natürlich kein Wort verstanden. Genau so haben wir uns das Reisen immer erträumt. Wir fühlten uns frei und angekommen, konnten einfach loslassen … ein überwältigendes Gefühl!
K _ Flurin wurde von den Einheimischen sogar kurzerhand zum Hochzeitsfotografen ernannt. Intimer gehts doch fast nicht. Am nächsten Tag zeigte uns der Inselbewohner Mohammed in einem Fünf-Minuten-Crashkurs, wie man einen geschalteten Töff fährt. Das Teil hatte keine Handbremse, keinen Tacho und Helm oder gar Schutzkleidung gabs auch nicht. Da fühlten wir uns herrlich weit weg vom Bünzlitum in der Schweiz.
Wie verständigt ihr euch?
K _ Wenn wir mit Englisch nicht mehr weiterkommen, behelfen wir uns mit Google Translate oder Händen und Füssen. An der Sprache ist noch keine Begegnung wirklich gescheitert.
Ihr begegnet auch Armut, Elend oder Kinderarbeit. Wie geht ihr damit um?
F _ Mit anzusehen, unter welchen Bedingungen viele Menschen – vor allem Kinder – leben, ist schon hart. Wir reisen in dem Wissen um die Welt, jederzeit wieder in die behütete Schweiz zurückkehren zu können. Trotzdem glauben wir, dass es wichtig ist, nicht die Augen vor den Problemen in der Welt zu verschliessen – auch wenn wir auf unserer Reise manchmal Dinge oder Schicksale ausblenden, um nicht den Mut und die Zuversicht zu verlieren.
K _ Wenn es sich ergibt, packen wir natürlich auch mit an. In Armenien haben wir zum Beispiel bei «World Central Kitchen» bei der Verpflegung von Geflüchteten aus Bergkarabach geholfen. Und was Armut betrifft: Diejenigen, die am wenigsten haben, geben oft am meisten und sind extrem grossherzig. Obwohl sie wissen, dass wir in vielen Bereichen privilegierter sind. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass auch der reiche Westen noch viel von anderen Kulturen lernen kann.
Habt ihr schon heikle Situationen erlebt?
F _ Einmal wurden wir in Georgien von Betrunkenen blöd angemacht. Aber das kann dir auch in der Schweiz passieren. Vom Iran nach Pakistan konnten wir durch die Provinz Belutschistan nur mit Polizeieskorte reisen. Drei Tage umgeben von schweren Waffen – das war schon ein komisches Gefühl. Ansonsten versuchen wir, das Risiko mit guter Vorbereitung, aktuellen Informationen und Austausch mit anderen Reisenden zu minimieren.
Wie entscheidet ihr über den Verlauf eurer Reise?
K _ In den ersten Wochen haben wir viel geplant, Sehenswürdigkeiten abgeklappert und wollten nichts verpassen. Wir haben aber schnell gelernt, dass wir nicht alles sehen können und auch nicht müssen. Anfangs war es schwer, auch mal nichts zu tun und Langeweile zu spüren. Das sind wir in unserer durchgetakteten und leistungsorientierten Gesellschaft nicht mehr gewohnt. Aber mit unserem Reisestil wollten wir ja gerade einen Gang zurückschalten und Tempo rausnehmen. Inzwischen lassen wir uns viel Zeit für Begegnungen mit Einheimischen. Daraus ergeben sich unglaublich schöne Gespräche, oft auch Freundschaften.
F _ Wenn es uns irgendwo gefällt, bleiben wir, solange wir wollen. Das Einzige, was uns einen Rahmen gibt, ist die Dauer des Visums.
24/7 in Gesellschaft des Partners: Geht ihr euch nicht manchmal auf die Nerven?
K _ Die gemeinsamen Erlebnisse haben uns noch mehr zusammengeschweisst. Unsere Kommunikation ist sehr gut, so können wir grössere Konflikte meist vermeiden. Auf den Keks gehen wir uns eigentlich nur, wenn wir «hangry» sind: je grösser der Hunger, desto schlechter die Laune!
Und was ist, wenn ihr stunden- oder tagelang in stickigen Bussen oder überfüllten Zügen sitzt?
F _ Wir Schweizer sind zu Recht stolz auf unseren ÖV. Aber bisher waren die Verkehrsmittel – besonders über weite Distanzen – viel besser, als wir gedacht hätten. In Pakistan reisten wir in einem Luxusliner mit Massagesesseln. Da hatten wir zwei als grosse Menschen deutlich mehr Komfort und auch Beinfreiheit als in den meisten Bussen in der Schweiz. Nerven kostet es eher, rechtzeitig an das richtige Ticket zu kommen …
Kyra, hattest du Bedenken, als weisse Frau durch Iran und Pakistan zu reisen?
K _ Allein hätte ich mich das wohl nicht getraut. Natürlich habe ich mich den Kleidungs- und Verhaltensregeln der muslimischen Länder angepasst. Dass strenggläubige Menschen nur indirekt über Flurin mit mir geredet oder mir nicht die Hand geschüttelt haben, gehört einfach dazu. Alle behandelten mich aber sehr respektvoll.
F _ Die Medien zeichnen ein einseitiges, oft negatives Bild von diesen Ländern. Hätten wir uns nur davon leiten lassen, wären wir nie in den Iran oder nach Pakistan gereist – und hätten die schönsten Begegnungen mit den wunderbarsten Menschen verpasst. Meist ist es nur die Regierung, die ein schlechtes Licht auf ein Land wirft, nicht die Menschen, die darin leben müssen.
Wie habt ihr persönlich die politischen oder gesellschaftlichen Stimmungen in den Ländern wahrgenommen?
K _ In Armenien haben wir die Lage im Süden als prekär empfunden. Im Iran war die Revolution stark spürbar. Wir hatten das Gefühl, dass die jungen Leute ähnlich wie wir ticken und dass ein grosser Teil des Volkes nicht auf Seiten der Regierung ist. Die Menschen lieben ihr Land, viele wollen jedoch weg, weil es für sie keine Perspektiven gibt.
F _ Alle, mit denen wir gesprochen haben, sind gegen den Krieg in Nahost. Es ist traurig, dass in Europa viele den Islam sofort mit Terror und Gewalt in Verbindung bringen.
Was ist bisher die Essenz eurer Reise?
K _ Dass die Menschen überall auf der Welt die gleichen Wünsche, Hoffnungen und Ängste haben. Nur eben unter sehr ungleichen Bedingungen. Wir haben so viele Leute getroffen, die ein extrem schweres Leben führen und trotzdem glücklich sind und Fremden mit Offenheit begegnen. In den Bergen von Pakistan erwähnten wir einem Einheimischen gegenüber, dass wir Interesse an traditioneller Musik haben. Noch am gleichen Abend hatte er eine Gruppe Musiker organisiert, es wurde ein Lagerfeuer entzündet und wir erlebten einen unvergesslichen Abend. Wenn du so was erlebst, kommst du dir mit deinen eigenen kleinen Problemen schon etwas doof vor.
F _ Uns verbindet viel mehr als uns trennt. In der Altstadt von Chiang Mai feierten wir bei der weltweit grössten Wasserschlacht mit. Das Songkran-Festival erinnerte uns an die Fasnacht. Statt Konfetti und Bonbons wirft man hier eben Wasser. Neun Stunden lang waren wir mittendrin – pflotschnass in Harmonie mit Tausenden fremden Menschen um uns herum.
Ihr seid jetzt fast ein Jahr unterwegs. Keine Anzeichen von Heimweh?
F _ Solange unsere Ersparnisse reichen, reisen wir weiter. Auf jeden Fall bis Indonesien, dann sehen wir weiter. Natürlich vermissen wir unsere Familien und unsere Freunde. Aber es ist auch schön, dieses Gefühl zu spüren und zu wissen, wohin wir gehören und was wir daheim wertschätzen.
K _ Zum Beispiel, Wasser direkt aus dem Hahn zu trinken – Luxus pur!
(Mit der TransaCard immer kostenlos)