David Botta & Florian Förster
Fünf Jungs aus der Nordwestschweiz segeln auf einem kleinen Holzfloss nach präkolumbischem Vorbild über den Bottnischen Meerbusen.
Der beissende Geruch von Schiffsdiesel durchdringt die kühle salzige Meeresluft, der überforderte Bootsmotor heult. Es ist kurz nach neun Uhr abends. Bloss ein dünner roter Streifen trennt am Horizont das graue Meer vom düsteren Himmel. Während wir auf unserem selbst gebauten Floss am Schlepptau aus der kleinen schwedischen Bucht gezogen werden, begleiten uns in einigem Abstand zwei weitere Boote.
Unsere neuen schwedischen Freunde, die uns beim Bau etliche Male unterstützt haben, fahren neben uns her, um uns auf dem Wasser zu verabschieden. Steine, dicht unter der Wasseroberfläche, ziehen als schwummrige Schatten links und rechts an uns vorbei. Sie hätten jeglichen Versuch, mit eigener Kraft aus der Bucht zu segeln, zunichtegemacht. Mats, der in diesen Gewässern seit Jahrzehnten fischt, kennt sie alle und manövriert uns geschickt hinaus. Wir kontrollieren die Karte, um ihm einen Kilometer vor der Küste bei den vereinbarten Koordinaten das Zeichen zum Abhängen zu geben. Ein Blick zum Fischerboot, Daumen hoch, die Wassertiefe stimmt. Nicola, der am Bug steht, winkt dem Boot zu und brüllt: «You can drop us now!» Und so macht er uns los. Das Knattern des Motors hält inne und die Schleppleine wird locker.
Der frische Westwind dreht die Wimpel an der Abspannung nach Osten. Dorthin wollen wir. Der Blick auf das Meer hinaus weckt ein ungewohntes Gefühl von mulmiger Vorfreude. Alle wissen, was zu tun ist, Kommandos sind keine mehr nötig. Mit kräftigen Bewegungen ziehen wir die schwere Rah hoch, an der unser überdimensioniertes Segel hängt, dann lassen wir die Steuerschwerter zur Hälfte ins Wasser. Unser Kurs lautet 60° Nord, der erste Wegpunkt ist ein 15 Kilometer nordöstlich stehender Leuchtturm. Damit stellen wir sicher, dass wir die Untiefen der Insel Holmön umschiffen und erst dann in Richtung Finnland abdrehen. Ein letztes Mal kreisen unsere Begleitboote ums Floss. Das Segel wölbt sich, die Seile spannen sich und kaum merklich nimmt unser Floss Fahrt auf.
Frühjahr 2021: Noch sind die Nächte kalt und der Wind fegt durch die Strassen Basels. Von alldem merken mein Vater und ich, Noe, nichts. Behaglich und satt sitzen wir uns im Restaurant gegenüber. Gerade habe ich von meiner Idee, ein segelbares Floss aus Baumstämmen zu bauen, erzählt und mich beschwert, dass derartige Konstruktionen auf den grossen Seen der Schweiz verboten sind, da lehnt sich mein Vater über den Tisch und fragt: «Wieso machst du es nicht richtig? Wieso in der Schweiz und nicht auf einem Meer?»
Eine Woche später beginne ich mit der Suche nach vier Mitstreitern, die verrückt genug sind, dieses Projekt umzusetzen. Als wir uns zum ersten Mal als Team treffen, kennen wir uns mehr schlecht als recht. Wir sind einfach die Einzigen in unserem Bekanntenkreis, die für so eine Idee zu begeistern waren. Doch jeder bringt genau das mit, was den anderen vier noch fehlt. Wir ahnen nicht, dass wir uns auf lange 14 Monate einlassen. Unzählige Wochenenden verbringen wir zusammen. Auf Schweizer Seen gondeln wir mit unserem Prototyp hin und her, üben und üben, verbessern und verändern ihn stetig. In einer leeren Scheune bauen wir ein hölzernes 1:2-Modell, wir treffen erfahrene Segler, recherchieren und diskutieren die Expedition immer und immer wieder. Mal sind die Diskussionen hitzig, mal ziehen sie sich über Stunden, doch am Ende steht ein Plan: Wir wollen mit einem Floss präkolumbischer Bauart den Bottnischen Meerbusen von Schweden nach Finnland überqueren und falls möglich, die Steuertechnik weiter verfeinern.
Zurück auf dem Wasser. Der Wind bläst heftig, kein Land ist mehr zu sehen. Urplötzlich: «Jungs, der Mast!» Und tatsächlich: Eben noch satt und stramm im Sockel, pendelt der Stamm auf einmal wütend hin und her. Der Wind ist stärker geworden. Wir merken es an den Händen und Schultern, die mittlerweile an den Leinen reissen müssen, um die Position des Segels zu verändern. Auch die Wellen sind höher und schlagen aggressiv von der Seite gegen das Floss und treiben uns unaufhaltsam weiter raus, als verspürten sie höhnische Freude daran, uns fünf Narren im Gleichtakt «Zurück gehts nimmer» zuzurufen und es mit einem lauten Klatschen gegen die Bordwand zu unterstreichen.
Steil und hoch peitschen sie in Salven heran und bringen den sieben Meterhohen Mast gefährlich ins Schwingen. Das Segel muss runter! Jetzt! Abspannungen kontrollieren! Können wir Kurs halten oder müssen wir vorzeitig abdrehen? Wir entscheiden uns, die Abspannungen nochmals anzuziehen. Zu fünft und so konzentriert wie möglich lösen wir den einen Knoten, der die Frontabspannung des Mastes hält.
Wenn ein Fehler passiert, wars das mit dem Mast und unserem Floss – das ist uns allen bewusst. Erste Abspannung nachgezogen, jetzt kommt die zweite – ein Spiel auf des Messers Schneide. Die vorderen Abspannungen sind nachgezurrt, es folgen die seitlichen. Und wieder und wieder: Segel setzen, testen, ob es funktioniert. Doch der Mast schwankt noch immer. Plan B: Wir müssen mehr mit dem Wind segeln.
Die Idee zu einer Überfahrt mit einem selbst gebauten Floss hatte Noe Schnyder, als er sich im Rahmen seines Studiums mit Expeditionen wie etwa Thor Heyerdahls «Kon-Tiki» im Jahr 1947 beschäftigte. Noe wollte die relativ simple Segeltechnik und Flossbauweise selbst ausprobieren, mit der schon – nach der Theorie von Heyerdahl – die südamerikanischen Urvölker von Peru aus den Südpazifik besiedelt hatten.
Ihre präkolumbische Segeltechnik zeichnete sich durch die Steuerschwerter «Guaras» und das Rahsegel (rechteckiges Segel an einem hochgezogenen Balken) aus. Das Floss, mit dem Noe und seine vier Begleiter von Schweden nach Finnland übersetzten, war etwa sieben Meter lang, fünf Meter breit und wog viereinhalb Tonnen. Das ganze Holz stammte aus der Umgebung von Ratu – einem kleinen Fischerdorf in Schweden, wo die Jungs das Floss in 17 Tagen bauten und lossegelten.
Der Leuchtturm war bereits in greifbarer Nähe. Wir sind enttäuscht, aber doch froh, dass die Wellen nun von hinten kommen und den Mast nicht weiter strapazieren. Er steht wieder satt im Sockel. Wir nehmen Fahrt auf und segeln mit Rückenwind weiter in Richtung Südosten.
Ein Uhr morgens: Wasser und Himmel sind mittlerweile vom selben Grau, mannshohe Wellen türmen sich hinter dem Floss und der Bug bohrt sich jedes Mal tief ins Wasser, bevor er sich wieder nach oben hebt. Trotzdem machen wir etwa drei Knoten Fahrt. Es ist erbärmlich kalt, alles ist nass und das stetige Bocken und Stampfen des Flosses lässt uns alle eine aufkommende Übelkeit verspüren. Wir haben bewusst auf Tabletten verzichtet, um die eigene Seetüchtigkeit zu testen – wie dämlich das ist, bemerken wir spätestens, als wir uns alle 30 Minuten über Bord lehnen müssen.
Die einen nimmt es hart, die anderen weniger. Wie ein Wundermittel hilft es, wenn wir uns mit dem Rücken aufs Deck legen und die Augen schliessen. Alle zwei Stunden kann sich einer von uns in voller Montur in den Schlafsack legen. Zwei Stunden Flucht vor der Kälte und der Übelkeit. Doch kaum hat man sich wieder aus dem Schlafsack geschält, um dem nächsten Platz zu machen, holt einen die Realität wieder ein. Das Krachen der Wellen und die eisige Luft. Am kältesten sind die Pinkelpausen.
Man müht sich auf Deck aus den Schichten von Schwimmweste, Regenjacke, Wathose und Neopren, das riskanteste Unterfangen während der ganzen Überfahrt. Damit man beim konzentrierten Wasserlassen nicht mit runtergekrempeltem Neopren von Deck ins zehn Grad kalte Wasser fliegt, bedarf es eines Kollegen, der einen mit beiden Händen am Hosenbund hält. Wären da nicht der Wind und die finsteren Wolken, würden bei dem romantischen Anblick sogar Jack und Rose aus «Titanic» vor Neid erblassen.
Um sechs Uhr früh taucht plötzlich aus dem Regendunst ein schwarzer Schatten auf. Gespenstisch zieht ein riesiger Frachtkahn einen halben Kilometer entfernt an uns vorbei nach Norden und verschwindet ebenso abrupt wieder in der grauen Leere, wie er erschienen ist. Wer auch immer gerade auf der Kommandobrücke des Frachters gestanden hat, reibt sich beim Anblick unseres Vehikels in so frühen Stunden mitten auf dem Meerbusenwohl immer noch verwundert die Augen.
Um drei Uhr nachmittags sehen wir im Osten die ersten schwachen Konturen der finnischen Küste. Wir sind noch gut 15 Kilometer entfernt. So magisch wie wir uns diesen Moment zu Hause auf dem Sofa immer vorgestellt haben, so selbstverständlich kommt er uns jetzt vor. Als wir unsere Anlandebucht erkennen, wollen wir es noch einmal wissen. Noch ist niemand mit einem Floss gegen den Wind gesegelt. Das soll uns heute gelingen. Alle Steuerschwerter sind bis zum Anschlag im Wasser. Gepeinigt von Übelkeit reissen wir nochmals an den Leinen, versuchen die Richtung des Windes präzise zu bestimmen und überprüfen unseren Kurs über Grund auf dem GPS. Keine beneidenswerte Aufgabe, denn wer zu lange auf das Display starrt, hängt ziemlich rasch über dem Deckrand und grüsst die Fische. Aber so sehr wir auch zurren und reissen, wir driften zu stark ab. Also setzen wir den finalen Kurs auf unsere Landezone.
Es ist 17 Uhr, als das Floss in die verlassene Bucht der Landzunge Frösön einfährt. 20 Stunden dauerte die Überquerung des knapp hundert Kilometer breiten Bottnischen Meerbusens. Einmal mehr wurde die Seetauglichkeit dieser bewundernswerten präkolumbischen Konstruktion unter Beweis gestellt. Wir alle können nun erahnen, welch beeindruckende Reisen wohl damals von den Urvölkern unternommen wurden.
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