Alex Spoerndli
13 Menschen, zwölf Tage, fast 300 Kilometer als Karawane zu Fuss durch die Sahara. Warum tun wir uns das an?
«Scheiss Wind, scheiss Sand, Dreckskälte. Das ist doch alles beschissen», sagt Paul, dreht den glühenden Tabak aus seiner Zigarette und verstaut den Filter in der Zigarettenschachtel. Wir haben drei Tage Sandsturm hinter uns. Und kämpfen uns gerade nach einer eiskalten Nacht aus unseren Zelten, warten darauf, dass die Sonne aufgeht und die Wüste und unsere Körper wärmt. So viel wir alle fluchen, war es genau das, was wir wollten: zwölf Tage durch die marokkanische Wüste, fast 300 Kilometer zu Fuss. Eine Streckenwanderung entlang alter Karawanenrouten in einer unwirtlichen Umgebung, die wenig Fehler verzeiht. Einen schweren Rucksack auf den Schultern. Sonne, die gnadenlos auf den Kopf brennt. Stiefel, die im weichen Sand bis über die Knöchel einsinken und jeden Schritt zum Kraftakt machen. Und die alles überschattende Frage: Warum tun wir uns das an?
Wir sind 13 Leute: sieben Deutsche, drei Marokkaner, zwei Schweizer und eine Estin. Der Altersdurchschnitt ist höher, als ich erwartet hätte, und liegt etwa bei 35 Jahren. Das erste Mal treffen wir uns am Vorabend des Tourstarts in der marokkanischen Grossstadt Marrakesch. Nach kurzem Kennenlernen teilen wir die Aufgaben auf: In rotierenden Zweierteams werden sich alle um das Lager kümmern und der Küche – Hassan und Aaddi – zuarbeiten. Am nächsten Morgen bringt uns ein Mini-Van in die Wüste. Dort warten bereits die Dromedare auf uns. Sie werden unser Lager-Equipment und Teile unserer Ausrüstung tragen.
In den ersten Tagen etabliert sich der neue Alltag. Wir stehen mit dem Sonnenaufgang auf, essen Frühstück. Wenn in Zelten geschlafen wurde, werden diese abgebaut. Parallel spült der Lagerdienst Teller und Küchenmaterial. Dann laufen wir los, solange es noch kühl ist. Die Distanz variiert zwischen 15 und 22 Kilometer am Tag. Wir marschieren sie in vier bis sechs Stunden, meistens mit zwei längeren Pausen und mehreren kurzen Stopps unter schattenspendenden, vereinzelten Bäumen. Unterwegs überholen uns planmässig die Dromedare, geführt von Hassan und Aaddi, die weniger und kürzere Pausen einlegen. So sind sie, wenn wir das Tagesziel erreichen, meistens schon dort und haben die Tiere von den Sätteln und Taschen befreit. Die Nachmittage sind für die Arbeit im Camp und Entspannung vorgesehen.
Bis sich der Körper an das ständige Gehen gewöhnt, reagiert er mit Blasen. Obwohl alle ihre Schuhe eingelaufen haben, gibt es niemanden, der verschont bleibt. Am schlimmsten erwischt es Agnes. Eine während der ersten zwei Tage gelaufene Blase wird immer grösser und grösser, bis sie am dritten Tag eine handtellergrosse Fläche an ihrem Innenfuss einnimmt. Torsten und Amy, Arzt und Ärztin aus unserer Gruppe, schneiden sie auf und entfernen den Hautlappen, um die Wunde austrocknen zu lassen, bis sie am nächsten Morgen verbunden wird. Notfalls könnte man Agnes auf eins der Dromedare verfrachten, um den Fuss anheilen zu lassen, aber sie will keine Sonderbehandlung. Den Rest läuft sie auf ihrem Fleisch, was alle im Team schwer beeindruckt und unsere persönlichen Wehwehchen relativiert.
Die Monotonie der Wüste macht uns achtsamer: die Schönheit der Monolithen, an denen wir vorbeigehen. Die Überraschung, wie schnell die Wüste von 40 Grad auf unter zehn abkühlen kann, wenn die Sonne untergeht. Die Weite des Sternenhimmels ohne Lichtverschmutzung.
Der vierte Tag wird anstrengend. Zuerst geht es einige Kilometer über die Lehmflächen eines ausgetrockneten Sees. Sie sind glatt wie eine Autobahn und wir kommen zügig voran. Sechs bis sieben Kilometer in der Stunde, sagt die Smartwatch. Dafür gibt es keinen einzigen Baum. Erst als wir den See verlassen, finden wir den ersten Schatten, den eine verlassene Hütte auf einem Hügelkamm in den Staub wirft. Dort nehmen wir kurz die Turbane ab, lüften die Köpfe. Der zweite Schatten an diesem Tag markiert unser Tagesziel. Der Baum befindet sich am Ende eines zehn Kilometer weiten Geröllfelds, einer sogenannten Hamada. Das ist von allen Wüstentypen der mit Abstand ungemütlichste zum Laufen. Jeder Schritt muss auf dem losen Geröll ausbalanciert werden. Als wir ankommen, fallen alle wie tote Fliegen auf den Teppich, den Hassan und Aaddi bereits aufgefaltet haben, und schlafen sofort ein.
Während des Abendessens zieht Wind auf. Er ist stärker als die Tage zuvor und gelegentlich bläst eine Böe etwas Sand ins Essen. Trotzdem geniessen alle die frische Luft, die die mittlerweile fettigen Haare zerzaust.
Am nächsten Tag stehen wir unter dem letzten Baum vor dem Dünenmeer. Wir warten und hoffen, dass der Wind, der die ganze Nacht geblasen hat und nun noch stärker geworden ist, irgendwann nachlässt. Der letzte Teil unserer Tagesetappe führt uns ins Herz eines Sandfelds, an den Fuss einer grossen Düne. Dort erwartet uns nichts als Sand, kein Schutz vor dem Wind, kein Wasser und erst recht kein Baum. Nach schier endlosem Warten brechen wir auf, auch wenn der Wind nicht nachgelassen hat, denn vor Sonnenuntergang wollen wir das Ziel erreichen. Die Dromedare werden beladen, die Rucksäcke geschultert und wir marschieren los. Der Wind ist so stark, dass man teilweise kaum Luft kriegt. Wir müssen uns mit dem ganzen Körper dagegenstemmen, um voranzukommen, und bei jedem Dünenkamm peitscht er uns unnachgiebig den feinen Sand um die Ohren.
Wir werden gesandstrahlt. Unsere Augen sind rot und gereizt. Während wir auf die Dromedare warten – ausnahmsweise waren wir mal schneller als sie –, errichten wir hastig einen Wall aus Rucksäcken und kauern uns dahinter. Wir reden nicht viel, aber die müden Blicke, mit denen wir uns zur Etappe gratulieren, sprechen für sich: Das ist genau das Abenteuer, das wir gesucht haben. Es ist ein Rauschzustand, den wir gemeinsam erleben. Wir fühlen uns unbesiegbar und von nichts von unserem Weg abzubringen. Wir funktionieren als Team, obwohl wir uns erst so kurz kennen.
studierte Design mit dem Fokus auf multi-medialem Erzählen realer Geschichten in kurzen Formaten. Texte von ihm erschienen in der «NZZ», «izzy» oder im «Blick». Für diesen Rapport begab er sich auf seine erste Gruppenreise.
Drei Tage später hocken wir – mal wieder – auf einer ungeschützten Fläche. Die Gruppe ist dünnhäutig und reizbar: Die eine nervt das ständige Klappern der Trekkingstöcke. Den anderen die ständige Nähe anderer Gruppenmitglieder. Wen ich nerve und womit, kann ich nur erahnen. Ich bin mir aber sicher, dass auch ich genug Ecken biete.
Die Luft könnte nicht dicker sein, während wir schweigsam auf den Reis und das Gemüse warten, um endlich zu essen und uns anschliessend hinlegen zu können. In diesen Tagen wechseln unsere Emotionen innerhalb von Minuten. Von Euphorie zu Angst, von Selbstsicherheit zu Schwäche, von Grosszügigkeit zu Egoismus. Man merkt überrascht, wie man in diesen Ausnahmesituationen anders reagiert, als man von sich selbst erwartet hätte.
Alle sind froh, dass das Ende der Tour immer näher rückt. Vor uns liegen noch zwei Herausforderungen: ein Pass, der uns zurück in die Fläche führt, und ein letztes Dünenfeld. Wir meistern sie, ohne über unsere kaputten Füsse, die Hitze oder die schwerenRucksäckezu meckern. Am Abend warten Micha und Marion mit einer Flasche Anisschnaps auf. Dass die beiden eine schwere Glasflasche quer durch die Wüste schleppen und dann auch noch teilen, lässt die negativen Gefühle des Vorabends verblassen. Das Team kürt sie stumm zu den Helden des Abends. Wir rekapitulieren unsere persönlichen Highlights: An einer Oase fanden wir beispielsweise einen Tümpel, der zum Baden einlud. In sicherer Entfernung bestaunten uns die Dromedare. Schauten wie Spanner hinter einer Düne hervor. Eine wirklich amüsante Szene.
Die allerletzte Nacht verbringen wir nochmals in den Dünen. Es sind nur noch fünf Kilometer bis zu einem kleinen Dorf, dem Ende der Tour. Wir sind in Feierlaune und schicken ein Detachementmit leeren Rucksäcken los, um Alkohol und Zigaretten zu kaufen. In einer Hotelbar werden wir fündig: zweimal 24 «Flag Spécial»-Biere, drei Flaschen Rotwein.
Der Wind ist uns heute wohlgesinnt und bläst nur sehr schwach. Wir machen daher ein grösseres Feuer als sonst und trinken, lachen und spielen.
Die 300 Kilometer, die wir laut Schrittzähler gemacht haben, haben uns zwar geschafft, aber wir auch sie. Nicht nur, dass wir sie gemeinsam gemeistert haben, hat uns verbunden. Wichtiger war die Euphorie, die wir geteilt haben, als wir schwierige Aufgaben bewältigten. Und vermutlich war auch genau dieseEuphorie, was wir alle gesucht haben, als wir uns zu dieser Reise trafen. So unterschiedlich unsere Charaktere sind, so verbindet uns die Sucht nach Neuem.
Unausgeschlafen packen wir am nächsten Morgen ein letztes Mal unsere Sachen, schnüren die Stiefel, falten den Teppich zusammen, schultern die Rucksäcke und machen die ersten Schritte der letzten Kilometer.
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