Lisa Hermes
Seit drei Jahren trampen Lisa und Julia ohne Flugzeug um den Globus. Vor zwei Jahren führten wir ein grosses Interview mit ihnen. Was ist seitdem passiert? Und was bedeutet Corona für die beiden?
Von Süd- nach Mittelamerika zu kommen, war gar nicht so einfach. Zwischen Kolumbien und Panama erstreckt sich das Darién Gap – ein riesiges Labyrinth aus dichtem Dschungel und Sumpfland, ohne Weg oder Strasse. Die gängigste Option für Reisende ist es, das von Drogenbanden und Paramilitärs kontrollierte Gebiet einfach zu überfliegen. Das kam für uns nicht infrage, also suchten wir nach anderen Möglichkeiten.
Als wir in der kolumbianischen Hafenstadt Cartagena kein Segelboot finden konnten, hielten wir in dem Fischerdorf Turbo nach einem Handelsschiff Ausschau, das uns mit nach Panama nehmen würde. Im Hafengetümmel zwischen muskelbepackten Männern, hohen Stapeln von Kisten, Fischgestank und heisser, tropischer Luft wurden wir von den Leuten zwar freundlich begrüsst, aber dann doch nur müde belächelt, als wir vorschlugen, an Bord anheuern zu wollen.
Da die Suche erfolglos blieb, schipperten wir schliesslich mit einem schaukligen Fischerkahn in das vom Strassennetz abgeschnittene und von dichtem Dschungel umgebene Grenzstädtchen Puerto Obaldia. Durch dieses Gebiet verläuft eine der gefährlichsten Flüchtlingsrouten der Welt.
Flüsse, Sümpfe, Giftschlangen, Jaguare und die Paramilitärs, die die Route der Drogenschmuggler kontrollieren, sind nur einige der zahlreichen Gefahren, denen die Migranten und Migrantinnen auf ihrem Weg Richtung USA ausgesetzt sind. Wer sich dazu entscheidet, hier durchzulaufen, ist vollkommen sich selbst überlassen.
Während wir auf eines der Schiffe warteten, die hier nur alle paar Tage ablegen, richteten wir auf einem kleinen Strandabschnitt hinter dem Dorf unser Nachtlager ein. Es waren unruhige Nächte. Es schien, als würden sich die tragischen Geschichten, die der Dschungel der Darién-Region unter seinem undurchlässigen grünen Dickicht hütet, wie Geister in unsere Träume schleichen. Wie lange würden wir hier noch ausharren müssen?
Am dritten Tag machte uns ein Fischer aus dem Dorf schliesslich ein Angebot: Er müsse ohnehin nach Carti zu seiner Familie und könne uns für ein paar Dollar in seinem Boot mitnehmen. Carti ist ein sieben Stunden entferntes Örtchen, das eine Strassenanbindung nach Panama-Stadt hat.
Hier standen wir nun vor unserem nächsten Abenteuer, per Anhalter durch Mittelamerika nach Mexiko zu reisen. Von diesem Abschnitt des Kontinents hatten wir eine ganze Menge Horrorgeschichten gehört. Nicaragua, Guatemala, Honduras, El Salvador – alleine die Namen rufen bei vielen schon ein Unwohlsein hervor. Nachdem uns mehrere Leute prophezeit hatten, dass wir auf keinen Fall unbeschadet durch diese Gegend kommen würden, beschlich uns ein ziemlich mulmiges Gefühl. Aber während der Reisejahre haben wir gelernt, dass es vor Ort dann doch ganz anders aussieht. Das Trampen lief wunderbar, viel besser als in allen anderen Gegenden, die wir bisher bereist hatten.
Nach knapp einer Woche erreichten wir Guatemala. Hier blieben wir einige Zeit bei der NGO «Maya Pedal» und lernten, Velomaschinen zu bauen. Das sind zum Beispiel Saftmixer, Waschmaschinen oder Wasserpumpen, die nicht mit Strom, sondern durch Pedalkraft angetrieben werden.
Bei einem Ausflug in die nahe gelegene Kleinstadt Antigua suchten wir an einem verregneten Sonntagnachmittag einen trockenen Unterschlupf in einem kleinen Café. Dort sassen wir eine ganze Weile, als eine Hündin zur Tür hereinkam, zielstrebig unseren Tisch ansteuerte und es sich dort auf dem Boden gemütlich machte. Schon oft hatten wir während der Reise von einem Hund als Begleitung geträumt. Jetzt schien der Moment endlich gekommen zu sein. Wir nannten ihn Nami.
Unser erstes gemeinsames Abenteuer war die Veloreise nach Mexiko. Wir bauten uns aus Einzelteilen, die unbenutzt im Lagerraum der NGO herumlagen, zwei Velos zusammen. Als alles startklar war, schraubten wir noch eine Transportkiste für Nami auf den Gepäckträger und machten uns auf den Weg nach Mexiko. Eigentlich wollten wir mit den Velos bis zur Grenze der USA kommen, aber das Leben hatte sich mal wieder andere Pläne für uns ausgedacht …
In Chiapas lernten wir einige Mitglieder der Organisation CODEDI, des Komitees zur Verteidigung der Rechte indigener Völker, kennen. Sie luden uns zu ihrem autonomen Bildungszentrum «Finca Alemania» ein, das gegründet wurde, um Jugendlichen aus marginalisierten indigenen Gemeinden Bildungsperspektiven zu geben.
Julia (29) und Lisa (30) gehen der Frage nach, ob und wie man ein Leben ausserhalb von Ausbeutung, Konsumzwang und Umweltzerstörung leben kann. Sie sind auf einem Segelboot über den Atlantik getrampt, durch den Amazonas gepaddelt und per Autostopp durch Südamerika bis nach Feuerland gereist - hier gehts zur Reportage. Inzwischen sind die beiden in den USA. Von dort wollen sie nach Russland und schliesslich durch Asien und Osteuropa zurück nach Deutschland reisen.
Blog von Lisa und Julia: outthere.eu / Instagram
Als wir dort nach einer mehrstündigen Fahrt über matschige Dschungelstrassen ankommen, spüren wir sofort, dass Anspannung in der Luft liegt. Eigentlich haben wir spielende Kinder und Jugendliche erwartet. Aber die sind nicht zu sehen. In der Nacht zuvor hatten die Compas bei ihrer Patrouille einen Mann entdeckt. Anstatt sich auszuweisen, zog der eine Pistole aus dem Hosenbund. Bei der folgenden Rangelei löste sich ein Schuss, später starb der Angreifer im Krankenhaus. Das Erschreckende: Der Mann trug weitere Waffen und Drogen bei sich und war von der Polizei. Die Bewohner der Finca vermuten, dass man ihnen die Drogen unterjubeln wollte, um gegen sie vorgehen zu können.
Plötzlich sind wir mittendrin im Machtkampf zwischen Staat und Indigenen. Es dauert nicht lange, bis uns die Nachricht erreicht, dass 160 schwer bewaffnete Militärs auf dem Weg zur Finca seien. Lisa und ich entscheiden, uns gemeinsam mit ein paar anderen dem Konvoi in den Weg zu stellen. Von unserem Einsatz in Chicomuselo als Menschenrechtsbeobachterinnen wussten wir, dass die Präsenz internationaler Beobachterinnen eine Situation wie diese entschärfen kann.
Auf den Ladeflächen stehen schussbereite Schützen, die mit ihren Uniformen, Knieschützern, schwarzen Masken und schweren Gewehren vor der Brust so aussehen, als hätten sie sich für einen Bürgerkrieg zurechtgemacht. Doch tatsächlich erreichen wir nach langer Verhandlung, dass nur drei Polizeifahrzeuge mit insgesamt zwölf Beamten hoch zur Finca fahren – auf allen drei Autos soll je ein internationaler Beobachter mitfahren.
Auf der Finca angekommen, haben wir den Eindruck, dass es den Behörden nicht um die Ermittlung, sondern nur um das Ausspähen der Anlage geht. Die Compas befürchten, dass es in den nächsten Tagen zu einer gewaltsamen Räumung kommen könnte. Schweren Herzens verlassen Lisa und ich mit den Kindern und Jugendlichen das Gelände. Unsere Compas kennen jeden Winkel des Dschungels und wissen, wo sie im Falle eines Übergriffs Zuflucht finden würden.
Solche Auseinandersetzungen mit dem Staat sind Teil der bitteren Realität indigener Widerstandsbewegungen. Sie sind dem Staat ein Dorn im Auge, weil sie im Einklang mit der Natur und nach ihren Gebräuchen leben wollen, anstatt ihr Land an Grosskonzerne zu verkaufen, die die Ressourcen dann vermarkten.
Im Gegensatz zu diesen lokalen Problemen unter dem Brennglas ist die nächste Krise, die wir erleben, eine globale: Wir sind noch immer im Süden Mexikos, als die Corona-Pandemie ausbricht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die USA die Schotten dicht machen würden. Dann müssten wir unseren Plan, weiter Richtung Norden und über die Beringsee zu reisen, erst einmal auf Eis legen.
Von Teotihuacán sind es etwas mehr als 2000 Kilometer bis zur Grenze, realistisch geschätzt also vier bis fünf Tramptage. Am seidenen Faden der Hoffnung festhaltend, machen wir uns auf Richtung Norden. Einen Tag vor Ankunft an der Grenze verkündet Präsident Trump die Schliessung. Nach zweieinhalb Jahren Reisealltag müssen wir uns jetzt erst mal neu organisieren. Wir stecken in Mexiko fest.
Wir versuchen, das Beste aus dem Leerlauf zu machen: Wir lernen, wie man Kombucha und Kefir herstellt, Gitarre spielt, legen einen kleinen Garten an und experimentieren mit luziden Träumen und Traumdeutungen. Unsere 84-jährige Nachbarin Doña Jacinta wird zu unserer besten Freundin. Sie erfreut uns mit fantastischen Geschichten und bringt uns bei, wie man mit Pflanzen spricht, damit sie besser wachsen.
Nach einem weiteren erfolglosen Versuch, die Grenze zu den USA auf dem Landweg zu passieren, bleibt uns Ende Juli nur noch eine letzte Möglichkeit: mit dem Flugzeug in die USA zu fliegen. Zwar spricht das absolut gegen unsere Reisephilosophie, aber unsere Zeit in Mexiko läuft bald ab und unser Reisekonto ist leer gefegt. Wir hoffen, in den Staaten einen Job zu finden, um die weitere Reise finanzieren zu können. Also fliegen wir schweren Herzens mit Nami nach Kalifornien.
Corona hat unseren Traum von der Weltreise ganz schön ins Wanken gebracht. Gestern war Reisen noch ein Ausdruck von Freiheit, heute ernten wir Blicke des Unverständnisses. Wie angebracht ist Reisen noch in solchen Zeiten? Sollten wir unser Seelenprojekt besser aufgeben und uns den neuen Regeln unterwerfen? Während wir noch immer privilegiert sind, ist das Leben vieler Menschen durch die Pandemie existenziell bedroht. Trotzdem: Diese Reise war für die letzten drei Jahre unser Leben und die Aussicht, diesen so wichtigen Lebensabschnitt einfach so abzubrechen, tut uns in der Seele weh.
Noch versuchen wir, optimistisch zu bleiben, und werden die Situation bis März beobachten – dann läuft unser USA-Visum ab. Vielleicht können wir unsere Reise dann wie geplant über Alaska, Russland und den eurasischen Kontinent fortführen, bis wir dann – über Land – wieder irgendwann in Deutschland ankommen. Mal sehen, was die nächsten Monate bringen werden – aufgeben werden wir so schnell nicht.
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