Ruedi Thomi
Transianerin Sina hat sich einen Teil des Urner Alpenkranzes vorgenommen – ihr erstes Solo-Trekking. Das Alleinsein war die geringste Herausforderung, denn es kam alles völlig anders als geplant. Hier findest du den Bericht ihrer Tour sowie die Route.
Der anspruchsvolle Urner Alpenkranz erstreckt sich über 360 Kilometer und bietet stolze 53’000 Höhenmeter, wenn man alle 40 Etappen laufen will. So viel wollte ich mir für mein erstes Solo-Abenteuer in den Bergen dann doch nicht vornehmen. Viele Etappen des Urner Alpenkranzes können jedoch als Tagesausflüge unternommen werden oder eben als kleinere Mehrtagestouren. Meine erste Fernwanderung, die ich allein unternehme, sollte vier Tage dauern und ab Göschenen von Hütte zu Hütte führen.
An einem bedeckten Sonntagmorgen geht es los. Ich nehme den Zustieg zur Salbithütte unter meine Füsse. Abgesehen vom Geräusch meiner Schritte und dem Zirpen und Surren der Insekten ist es still. Ich geniesse die Ruhe, vermisse weder eine Wanderbegleitung noch sonstige Gesellschaft und tauche in die wunderschöne Urner Bergwelt ein. Der Weg führt an vielen Alpweiden vorbei und wird gegen Ende steiler. Immer wieder halte ich an und schaue in den Himmel. Die Wetterprognosen sind nicht prickelnd. Morgen steht ein anspruchsvoller, spektakulärer Teil an: Von der Salbithütte will ich zur Voralphütte wandern. Dort wartet eine 90 Meter lange Hängebrücke auf mich. Nach einer Übernachtung in der Voralphütte soll es für mich zur Bergseehütte weitergehen.
Ich komme gut voran und geniesse es, komplett in meinem Tempo zu gehen. Ich hänge meinen Gedanken nach. Als ich die letzten Meter zur Hütte hochsteige, bin ich zufrieden und hungrig. Die Unterkunft hat an diesem Tag nur wenige Gäste. Die Wetterprognosen haben wohl viele abgehalten. Und die sind auch Thema Nummer eins auf der Hütte. Ich bin froh, dass ich mich jetzt austauschen kann und die wertvolle Einschätzung des Hüttenwarts erhalte. Ich müsse noch im Dunklen sehr früh am Morgen loslaufen, wenn ich es vor den heftigen Regenfällen in die Voralphütte schaffen will. Das ist so gar nicht, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Das Abwägen beginnt. Halbstündlich aktualisiere ich den Wetterradar, schaue mir die Route genau an. Ich bin viel in den Bergen unterwegs und Touren der Schwierigkeitsstufen T4 und T5 gewohnt. Ich liebe das Abenteuer und bin dem Risiko wohl auch nicht ganz abgeneigt. Oft hält mich in solchen Situationen meine Begleitung zurück. Allein auf mich gestellt, muss ich heute meine eigene Bremse sein. Eine Herausforderung.
Die nächste Etappe ist eine T4-Strecke: sehr schwierig und exponierte Stellen mit Absturzgefahr. Passiert mir etwas, bin ich auch hier auf mich allein gestellt. Ich bin noch hin- und hergerissen, als ich mit anderen Gästen ein Brettspiel beginne. Wirklich konzentrieren kann ich mich jedoch nicht. Das Gedankenkarussell dreht sich immer noch, als ich mich in Richtung Bett aufmache. Da die Hütte fast leer ist, geniesse ich ein «Privatzimmer» im Zwölferschlag. Der Wind pfeift immer stärker ums Haus und ich bekomme kein Auge zu. Meine Gedanken sausen hin und her: Der Kopf will kein Sicherheitsrisiko eingehen. Doch mein Wanderherz hatte sich so auf diesen Abschnitt gefreut und ich kann doch nicht auf meiner ersten Solo-Wanderung nach einem Tag umdrehen. Wie gerne hätte ich jetzt jemanden dabei, der mit mir entscheidet und abwägt. Will ich die Route in Angriff nehmen, muss ich jetzt den Wecker stellen und noch fast bei Nacht aufbrechen. Nach einigem Ringen treffe ich eine Entscheidung: Ich werde die nächste Etappe mit diesen Wetterprognosen nicht antreten. Nach Hause will ich aber auch nicht. Der Kompromiss: Ich sage dem Hüttenwart in der Voralphütte ab und teile dem der Bergseehütte mit, dass ich eine Nacht früher komme.
Am nächsten Morgen steige ich also wieder ab und nehme vom Tal aus eine Route zur Bergseehütte. Diese traue ich mir auch im Regen zu. So bin ich wieder allein unterwegs, begleitet vom Geräusch des Regens auf meiner Kapuze. Im Tal treffe ich auf zwei Bauern, die Kühe vor sich hertreiben. Neugierig fragen sie, was mich in diesem Hudelwetter umtreibt, und wir kommen ins Gespräch. Ich freue mich über diese nette Begegnung und bin mir sicher, dass ich nichts über sie erfahren hätte, wenn ich mit Begleitung unterwegs gewesen wäre. Alleine zu wandern hat für mich den Vorteil, dass ich mehr in Kontakt komme mit fremden Menschen – das war auch schon gestern auf der Hütte spürbar.
Ein steiler Zickzackweg führt mich vom smaragdgrünen Göscheneralpsee hoch in die Bergseehütte. Dort angekommen, muss ich meine nasse Kleidung erst einmal zum Trocknen aufhängen. Dann ist viel Zeit, bis es Abendessen gibt. Nach langer Stille beim Laufen freue ich mich, hier und da ins Gespräch zu kommen. Mittlerweile habe ich mich mit meiner Entscheidung versöhnt.
Der nächste Tag ist nicht gerade freundlicher, dafür trocken. Ich nehme mir einen Moment Zeit und geniesse die Aussicht auf den Stausee. Heute unternehme ich zumindest einen Teil der eigentlich geplanten Route. Ich breche Richtung Osten auf, verlasse schon bald den Hüttenweg und folge den blau-weissen Markierungen über grosse Blockfelder auf rund 2’600 Meter hoch bis zur Bergseelücke. Die Landschaft ist karg und doch imposant mit ihren vielen verschiedenen Flechten und Felsen. Irgendwann kehre ich um und wandere wieder zurück zur Bergseehütte, wo ich die ursprünglich gebuchte Nacht verbringe.
Tag 1: Göschenen – Salbithütte
Tag 2: Salbithütte – Voralphütte
Tag 3: Voralphütte – Bergseehütte
Tag 4: Bergseehütte – Göscheneralp
Sinas Tour ist ein Teil des Urner Alpenkranzes: eine Weitwanderung rund um den Kanton Uri (ca. 360 km, 40 Etappen). Sie führt von Hütte zu Hütte und bietet von leichten Wanderungen bis zu alpinen Bergtouren alles, was das Wanderherz begehrt.
Beim Abstieg am nächsten Tag mache ich noch einen Abstecher um den Göscheneralpsee. Während ich laufe, frage ich mich, wie viel von meiner ursprünglich geplanten Runde ich nun eigentlich gemacht habe. Grob geschätzt dürften es circa zwei Drittel der Strecke sein. Den landschaftlich spektakulärsten Teil habe ich leider verpasst. Aber ich bin trotzdem zufrieden. Beim nächsten Mal werde ich eine etwas leichtere Route auswählen. Alleine unterwegs zu sein, ist schliesslich immer auch ein Risiko – das ist mir in den letzten Tagen noch einmal bewusst geworden. Trotzdem freue ich mich schon auf meine nächste Solo-Wanderung. Mit der Strecke zur Voralphütte, die ich wegen des Wetters nicht wandern konnte, habe ich noch eine Rechnung offen. Aber dann nicht mehr alleine, sondern mit Wandergspändli ...
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