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Wandern im Tessin: von Schmuggelpfaden und Heilbädern

Eine Person sitzt auf einer Bergkuppe, die Sonne steht knapp über dem Horizont.
Iris
Fotografin und Autorin
© Fotos

Den wilden Süden der Schweiz prägt ein raues Relief. Engagierte Menschen hauchen dort längst aufgegebenen Alpsiedlungen neues Leben ein. So lässt sich auf langen Graten zwischen tiefen Schluchten vorzüglich wandern.

Für Giuseppe Maggetti gibt es keinen schöneren Platz als hier oben auf Corte Nuovo auf dem Ostkamm des Pizzo Ruscada im Tessin. Hier steht er über den Dingen. Gerade erwacht der Tag: Im Osten glitzern noch die Lichter am Lago Maggiore, während sich der Himmel für den Sonnenaufgang herausputzt. Wilde Gebirgszacken säumen den Horizont. Zerklüftet und exponiert fallen sie in enge Täler. Auf manchem Sporn balanciert ein Maiensäss – Monti, wie sie im Tessin heissen. Tiefer unten kleben Dörfer im Steilhang. Stundenlang könnte Giuseppe hier sitzen, den Blick auf diesem Relief der Extreme weilen lassen, fasziniert vom Licht- und Schattenspiel, vom Urwald. Endlose Flächen.

Nirgendwo sonst in der Schweiz dehnt sich der Wald so weit aus wie hier auf der Alpensüdseite. Über 60 Prozent davon ohne forstwirtschaftliche Nutzung. Bereits 1992 entstand ein erstes Naturwaldreservat im Valle di Vergeletto, einem Seitenarm des Onsernone-Tals. Heute sind es fünf im Locarnese. Das grösste, die Riserva forestale dell’Onsernone, breitet sich auf 781 Hektar nordseitig unterhalb von Corte Nuovo aus, einzigartig dort der Weisstannenbestand.

Eine neue Perspektive

Das alles hätte Nationalpark sein können, wenn mehr als die Hälfte der Bevölkerung Ja gesagt hätte. Verflixt knapp war die Volksabstimmung am 10. Juni 2018: 49,35 Prozent sprachen sich für einen Parco Nazionale Locarnese aus. «Dabei hatten offiziell alle acht involvierten Gemeinden hinter dem Projekt gestanden», vermeldete SRF am Folgetag. Vor allem Jäger befürchteten Einschränkungen. Giuseppe hatte sein ganzes Herzblut in das Parkprojekt gesteckt.

  • Tessiner Berge im Abendlicht.

    Hoch über dem Centovalli thront das Corte Nuovo.

    Foto © Iris Kuerschner
  • Zwei Personen im Heilbad von Craveggia.

    Baden im Heilbad von Craveggia.

    Foto © Iris Kuerschner
  • Wanderer läuft hoch - eine herbstliche Berglandschaft

    Auf schmalen Pfaden, einst von Schmugglern genutzt, erleben heute Wander:innen das Tessin von seiner schönsten Seite.

    Foto © Iris Kuerschner

Von den Brissago-Inseln bis ins Vergeletto-Tal sowie rund um Bosco Gurin im Valle Rovana sollte sich der Nationalpark erstrecken, von 193 Meter Seehöhe bis zum 2’864 Meter hohen Wandfluhhorn, vom Subtropischen bis ins Hoch­alpine. Entstanden aus dem Zusammenstoss von afrikanischer und europäischer Kontinentalplatte, finden sich hier sämtliche Gesteinsarten, die es weltweit gibt. Forschende zählten 1’421 Pflanzenarten. Das raue Relief birgt wilde Winkel, die kaum je von Menschen betreten wurden. Kein Wunder, dass zumindest schon der Wolf zurückgekehrt ist. Eine Frage der Zeit, dass es auch der Bär tut. 2020 sichteten Wildhüter gar den ersten Goldschakal des Tessins.

Corte Nuovo hätte in der Kernzone des Nationalparks gelegen. Bis in die 1960er Jahre wurde das Maiensäss noch als Ziegenalp genutzt. Danach verfielen die Gebäude zunehmend. Dank der Hilfe des Nationalparkprojekts und zahlreicher Spenden konnte eine der Hütten restauriert werden und dient seit 2017 als Rifugio auf Selbstversorgerbasis mit grosser Küche, Holzofen und Schlaflager für sechs Personen. Für die Beleuchtung sorgt eine kleine Solarstromanlage. Am Vorrats- und Getränkedepot, das regelmässig aufgefüllt wird, darf sich gegen einen entsprechenden Obolus jeder bedienen. Wie auch am Holz für den Ofen. Wahrer Luxus.

Die früheren Bewohner und Bewohnerinnen hatten es nicht so bequem. Das zeigen die Bilder im Buch «Costa – alte centovalli», das in der Stube ausliegt: Alles musste auf dem eigenen Rücken oder mit Mulis heraufgeschleppt werden. Heute kann man per Seilbahn vom Bahnhof Verdasio auf den Monte di Camino gelangen und braucht dann nur noch etwas mehr als zwei Stunden. Mit jedem Schritt gerät man tiefer in die Ruhe, bleibt die hektische Welt zurück. Nur hier und da dringt das Bellen eines Hundes vom Tal herauf. Corte Nuovo ist ein Ort zum Auftanken. Frei und ungebunden wirken auch die stolzen Gesichter der Alpfamilien auf den vergilbten Fotos im Buch. Fern von Amt und Bürokratie herrschten hier oben andere Gesetze.

Weit zieht sich der Wald die Steilflanken hinauf. Vielerorts sind nur die Kämme frei. Kaum vorstellbar, dass noch vor gut 100 Jahren Kahlschlag vorherrschte, weil das Holz zum Feuern und der Boden zur Bewirtschaftung genutzt wurde. Dennoch reichte es nicht für die kinderreichen Familien. Viele sahen sich gezwungen, auszuwandern oder eines ihrer Kinder fortzuschicken. Nicht wenige Buben mussten sich im benachbarten Italien als «Spazzacamino», als Kaminfeger, verdingen. Von Intragna aus kann man auf der Via del Mercato ihren Spuren folgen. Im Dorfmuseum Museo Centovalli e Pedemonte dürfen Besucher in einen dieser engen Kamine schauen, in die sich einst Achtjährige hineinzwängen mussten. Lange Zeit fungierte die Via del Mercato, der Marktweg, als einzige Verbindung zwischen Domodossola und Locarno. Genutzt von Händlern, Holzfällern, Hirten, Emi­granten, Kaminfegern. Die geschichtsträchtige Route, heute als Wanderweg mit der Nummer 631 ausgeschildert, vermittelt einen intensiven Eindruck vom Centovalli. Man kommt an Mühlen und Waschhäusern vorbei. Giuseppe erinnert sich, wie seine Mutter dort noch von Hand die Wäsche schrubbte. Weiter oben durchzogen die Älpler- und Schmugglerwege die Berglandschaft.

«Schlimme Schmugglerpfade»

«In dieser wilden, unwirtlichen, felsigen Gegend voller Geröllhalden und böser Abstürze, suchten sich die Schmuggler ihren Weg. Er war gefährlich und voller Tücken, doch lauerte hier kein Grenzwächter, kein Soldat, kein Spürhund. Sie gingen sicher», schreibt Aline Valangin in ihrem Buch «Dorf an der Grenze», in dem sie das Schmugglergewerbe thematisiert.

Fleecejacken

Mitten durch den Talschluss des Onsernone zieht sich die grüne Grenze. Wie auch hinterm Pizzo Ruscada, den man wunderbar vom Rifugio Corte Nuovo aus besteigen kann. Zu Alines Zeiten schmuggelte man vor allem Reis. Sie trugen ihn am helllichten Tag auf offener Strasse herum, verhandelten in Hausgängen, in Küchen, stritten sich wegen des Preises, der langsam stieg, und machten Witze. «Vorsicht war jedoch kaum mehr nötig. Steckten doch alle im Dorf unter einer Decke und hüteten sich aus eigenem Interesse, Fremden gegenüber davon zu reden», schreibt Aline. Wer der Kammroute auf den Pizzo Ruscada folgt, balanciert mitunter auf einer schmalen Schneide. «Schlimme Pfade, die Schmugglerpfade. Da konnte man ermessen, was der Reis wert war.»

Jenseits des Gipfels schaut man in den weiten Kessel, der bereits zum Valle Vigezzo gehört, und der ebenfalls Teil des Nationalparks hätte sein sollen. Immerhin konnten die Ruinen des Heilbads von Craveggia etwas aufgemöbelt werden. Eine Lawine hatte 1951 diese einst beliebte Kuradresse zerstört. Nun sind die alten Badewannen im Keller des historischen Gebäudes wieder zugänglich, ausserdem laden zwei mit Heilwasser gespeiste Wannen zur Outdoor-Kur ein.

Angaben zur Wanderung

Anreise: Anreise mit dem Zug sbb.ch. Ab einer Übernachtung bekommt man das Ticino Ticket. Es berechtigt zur kostenlosen Beförderung mit öffentlichen Verkehrsmitteln und ermöglicht ermässigte Preise bei Seilbahnen, Schifffahrt und weiteren touristischen Einrichtungen.

Intragna im Centovalli: Albergo Antico, Tel. +41 (0) 91/796 11 07, hotelantico.ch, nur B&B, urig und traditionell sitzt und speist man im Grotto Maggini, der Wirt ist zugleich Kaffeeröster, Tel. +41 (0) 91/796 36 85, caffeantico.ch. Hotel-Ristorante Stazione, traditionelle Küche in etwas gehobenerem Stil, Tel. +41 (0) 91/796 12 12, yanelo.ch

Rifugio Corte Nuovo: Auch das Nachbargebäude soll in der Zukunft restauriert werden, dafür werden Helfende und Spenden gebraucht. Mehr Infos: cortenuovo.ch

Lektüre: «Wanderführer Lago Maggiore», Iris Kürschner und Gerhard Stummvoll, Kompass Verlag. «Urtümliche Bergtäler der Schweiz», Marco Volken, AT-Verlag. «Als lebender Besen im Kamin», Elisabeth Wenger, BoD.

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