Julian Rohn
Im Vergleich mit anderen Hochtourenzielen ist es in den Urner Alpen eher still. Wir haben uns auf den Weg gemacht: Eine sommerliche Durchquerung vom Haslital bis zum Sustenpass.
Als um vier Uhr der Wecker klingelt, ist das nicht weiter schlimm. Denn die erste Nacht auf einer Hütte schläft man selten tief und fest. Die dünne Höhenluft ist ungewohnt und irgendjemand schnarcht im Lager dann doch meistens. Leicht verschlafen, aber hoch motiviert schaufeln wir uns das Müesli rein, verstauen ein paar letzte Dinge in den Rucksäcken und dann verschwinden wir raus in die Dunkelheit. Heute geht es für uns von der Gelmerhütte in Richtung Diechterhorn.
Wir, das sind die vier Transianer Joy, Fini, Marcel, Patrick und ein 4-Seasons-Redaktor. Zusammen mit dem Bergführer Philipp von Höhenfieber wollen wir in den nächsten Tagen die Urner Alpen vom Haslital zum Sustenpass durchqueren.
Früh losgehen und früh wieder auf der Hütte sein – das ist eine der wichtigsten Regeln auf solch sommerlichen Hochtouren. Denn sobald die Sonne hoch am Himmel steht, weichen die Schneebrücken über den Gletscherspalten auf. Und schöne Sommertage neigen im Gebirge gerne zu Wärmegewittern am Nachmittag. Als wir am Gletscher die Steigeisen anschnallen, wird es langsam hell. Philipp demonstriert noch mal die richtige Technik. Die Steigeisen gilt es so aufzusetzen, dass sich möglichst viele Zacken gleichzeitig ins Eis graben. Das schont die Wadenmuskulatur und sichert einen festen Stand. Eine gute Auffrischung für uns und auch Fini, die heute zum ersten Mal auf Steigeisen steht, lernt es ruckzuck.
Gerade hier auf den unteren Metern des Diechtergletschers liegt kein Schnee mehr. Auf dem blanken Eis ist eine sichere Steigeisentechnik wichtig. Langsam geht es bergauf. Wir sind völlig allein. Generell sind die Urner Alpen im Sommer nicht überlaufen, aber heute ist es richtig einsam. Selbst oben am Diechterlimi, dem Übergang zum Triftgletscher, können wir nur eine andere Seilschaft in weiter Ferne erkennen. Kein Vergleich zu den Massen, die sich wohl gerade zur gleichen Zeit die Spur teilen an den begehrten Viertausendern. Von dem kleinen Pass aus haben wir sie alle im Blick: Das Finsteraarhorn und das Schreckhorn im Berner Oberland stehen uns fast direkt gegenüber. Etwas weiter hinten erkennen wir die Zacken von Matterhorn, Weisshorn und der Mischabelgruppe im Wallis. Das Diechterhorn bleibt mit 3389 Metern zwar deutlich unter der magischen Marke, ist dafür aber nicht weniger schön. Den Gipfel erreichen wir über eine steile Schneeflanke und eine kurze Gratkletterei im Granit.
Ein kritischer Blick in den Himmel. Ausser ein paar dünnen Wolken, ist von einem Wetterumschwung nichts zu sehen. Wir können uns entspannt an den Abstieg über den Triftgletscher machen. Selbst für August ist es ungewöhnlich warm. Weil die Nullgradgrenze in dieser Woche auf über 4200 Metern liegt, friert der Schnee über Nacht nicht mehr ganz durch. Schon jetzt, am frühen Vormittag, stapfen wir durch weichen Firn. Um die offenen Spalten machen wir einen grossen Bogen. Aber einmal stolpert Patrick mit einem Bein in eine kleine verdeckte Spalte und auch unter mir tut sich kurz danach ein kleines dunkles Loch auf. Alles kein Problem, wir brechen nicht ganz ein und sind ohnehin zu einer grossen Sechser-Seilschaft zusammengebunden. Die anderen merken nur ein kurzes Zupfen am Seil. In ein paar Stunden aber könnte es an gleicher Stelle dann durchaus eine Etage tiefer gehen.
Wenn man früh auf der nächsten Hütte ankommt, hat das auch Vorteile. Auf der Trifthütte begrüsst uns die Hüttenwirtin Nicole mit einem Tee. Wir sind die ersten Gäste des Tages und entsprechend entspannt ist die Stimmung.
«Ich bin sonst oft mit Freunden unterwegs. Jetzt konnte ich mir beim Bergführer mal was abgucken.»
Nicole fragt, ob wir später am Nachmittag noch «strahlen», also Kristalle suchen, wollen. Hammer und Meissel können wir uns an der Hütte ausleihen. Dazu gibt sie uns noch einen Tipp, in welcher Richtung wir es mal versuchen sollten. Das Gebiet rund um die Hütte ist für seinen Mineralienreichtum bekannt. Beweisstücke in unterschiedlichsten Formen liegen in der ganzen Hütte verstreut.
Nach einer kleinen Stärkung in Form von Kuchen und Kaffee auf der Hüttenterrasse klopfen und schürfen wir also Erde und Gestein aus Felsspalten – in der Hoffnung auf den grossen Fund. Besonders Marcel ist Feuer und Flamme. Der Orthopädietechniker aus der Transa Filiale Markthalle Bern hat schon etwas Erfahrung beim Strahlen und eine gute Nase für die richtigen Stellen. Immer wieder findet er kleine Splitter und irgendwann ist da auch ein Kristall von der Grösse eines Wachteleis dabei. Für alle anderen ist es auch ohne grossen Fund ein toller Nachmittag hoch oben, mit Blick auf den imposanten Absturz des Triftgletschers.
Am nächsten Morgen geht es fast auf Augenhöhe der riesigen Eiszunge weiter. So aus der Nähe wirken die freistehenden Eistürme an der Abbruchkante noch eindrücklicher. Nach kurzem Abstieg auf dem Hüttenweg biegen wir weglos in ein wildes Tal ab. Es geht über Moränenrücken und glatt geschliffene Granitplatten immer in Richtung Tierberglücke hinauf. Auch hier machen sich die hohen Temperaturen bemerkbar. Aus Richtung des Mittler Tierbergs fliegt fast ununterbrochen Steinschlag und lässt das graue Eis des Zwischen-Tierbergen-Gletschers aufspritzen. Wir halten uns in sicherer Entfernung und sind gleichzeitig merkwürdig fasziniert, wenn sich wieder krachend eine neue Salve hoch oben aus den Felsen löst.
Wir verlassen das enge Tal durch eine steile Rinne hinauf zur Tierberglücke. Kurz darauf stehen wir auf dem Vorder Tierberg. Unser heutiger Tagesgipfel ist 3091 Meter hoch. Gleichzeitig lassen wir hier den stillen Teil der Urner Alpen hinter uns. Die breite Mauer der Wendenstöcke und der grosse Felsblock des Titlis thronen im Norden, davor aber windet sich noch die Strasse zum Sustenpass hinauf. Von dort weht der Wind zum ersten Mal seit Tagen wieder ungewohnten Töfflärm herüber. Zur Tierberglihütte müssen wir nur noch über eine balkonartige Gletscherkante traversieren. Zahlreiche Tagesgäste sind von der Strasse aufgestiegen und geniessen den direkten Blick in die Gletscherwelt. Nach Tagen der Ruhe wirkt das für uns fast schon hektisch.
Erst am Abend wird es ruhig auf der Hütte und Zeit, die letzte Etappe zu planen. Das Sustenhorn ist mit 3503 Metern der höchste und bekannteste Gipfel auf unserer Durchquerung. Ein sehr beliebter Skitourengipfel im Frühjahr – als Teil der Urner Haute Route und auch als Tagestour vom Hotel Steingletscher. Der Wetterbericht kündigt allerdings für den nächsten Tag eine deutliche Verschlechterung mit Regen und vor allem sehr frühen Gewittern an. Bevor wir aber unverrichteter Dinge ins Tal absteigen, beschliessen wir noch etwas früher loszulaufen und es zu versuchen. Nicht benötigte Ausrüstung deponieren wir auf der Hütte, schliesslich kommen wir hier im Abstieg wieder vorbei. Die Rucksäcke sind jetzt extra leicht.
Der Plan scheint zu funktionieren, unter einem klaren Sternenhimmel brechen wir am nächsten Morgen auf. Ohne viel Gepäck, perfekt eingelaufen und akklimatisiert durch die letzten Tage sind wir flott unterwegs. Der Aufstieg führt zunächst auf ein grosses Gletscherplateau und ist nicht weiter schwer. Nur eine grosse Querspalte erfordert noch einen mutigen Schritt, dann liegt der finale Gipfelhang vor uns. Auf den letzten Metern zum Gipfelkreuz bricht die weiche Morgensonne durch und taucht alles in ein goldenes Licht. Besser kann man einen Gipfel nicht erreichen.
Langsam steigen am Horizont die Wolken auf, aber die werden uns nicht mehr erwischen. Zufrieden tragen wir uns ins Gipfelbuch ein. Im Abstieg zur Sustenpassstrasse reicht es sogar noch für einen schnellen Kuchen auf der Hütte.
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