Ted Logart
Der Arctic Ultra in Schweden führt bei bis zu minus 35 Grad Hunderte Kilometer durch Schwedisch-Lappland. Im Erfahrungsbericht erzählt Thomas Werner, wie er seinen Pulka repariert, wo er schläft und was ihn motiviert.
Nenne es Sturheit, aber wenn ich etwas angefangen habe, möchte ich es auch zu Ende bringen. 2022 musste ich meinen Lauf beim Montane Lapland Arctic Ultra (MLAU) abbrechen. Aufgrund schlechter Renneinteilung und Schmerzen in der Hüfte war ich so langsam unterwegs, dass ich das Zeitlimit niemals eingehalten hätte. Nun also der nächste Versuch über die 185 Kilometer.
Der MLAU ist ein Nonstop-Lauf über 185 oder 500 Kilometer durch die winterliche Weite Schwedisch-Lapplands. Für die kurze Strecke hat man vier Tage Zeit, für die lange zehn. Etwa alle 50 Kilometer gibt es einen Checkpoint, an dem man eine warme Mahlzeit und heisses Wasser für die Thermoskanne bekommt – alles andere muss man selbst in seinem Pulka, einem Gepäckschlitten, mit sich führen. Geschlafen wird in der Regel draussen.
Schon ein Blick auf die Pflichtausrüstung verrät, dass der MLAU kein Sonntagsspaziergang ist: Winterschlafsack mit Temperaturempfehlung von minus 40 Grad, Mehrstoffkocher, expeditionstaugliche Daunenjacke, Schneeschuhe, Erste-Hilfe-Set, Säge, Notfall-GPS … die Liste ist lang. Und bei mir noch länger, weil ich erneut mit meinen beiden Hunden Erni und Loki an den Start gehe. Also kommen noch Hundefutter, Leinen, Zuggeschirr und Kälteausrüstung für die Vierbeiner dazu. Aber da ich ohnehin nur im Zeitlimit ins Ziel kommen will, machen mir die paar Kilo Zusatzgewicht nichts aus.
Am 5. März 2023 ist es dann so weit: Um neun Uhr morgens stehe ich mit Erni und Loki an der Startlinie in Överkalix. Meine Thermoskannen sind mit heissem Wasser bzw. Kaffee-Kakao-Gemisch gefüllt, der Wetterbericht für die nächsten Tage sagt angenehme minus 17 Grad voraus. Was soll also schon schiefgehen? Nach dem Gruppenfoto zählt Veranstalter Robert den Countdown runter und das Rennen beginnt.
Ich bin noch keine 500 Meter gelaufen, da merke ich schon, dass etwas nicht stimmt. Der Pulka hängt nur noch am rechten Karabiner des Zuggeschirrs, das linke Gestänge fehlt zur Hälfte. So ein Mist! Ich brauche eine halbe Stunde, um das gerissene Drahtseil provisorisch durch ein Stück Leine zu ersetzen. Als ich endlich wieder aufbrechen kann, ist von den anderen Teilnehmenden längst nichts mehr zu sehen. Ausserdem hängt der Pulka nun leicht schräg hinter mir und ich habe Sorge, durch die ungleiche Druckbelastung im Laufe des Rennens wieder Schmerzen zu bekommen.
Irgendwo bei Kilometer 30 komme ich an frischen Elchspuren vorbei. So sehr ich Wild mag und es gerne beobachte, bin ich doch froh, den Elchen nicht direkt über den Weg gelaufen zu sein. Weiss ich doch, dass sie mitunter recht aggressiv auf Störenfriede reagieren. Dann passiert es: Wieder höre ich hinter mir ein «Pling» – jetzt ist auch das rechte Drahtseil gerissen. Mit Wut im Bauch demontiere ich das Pulkagestänge und suche nach einer Lösung. Zum Glück habe ich etwas Seil und Ersatzleinen für die Hunde dabei. Zwar bekomme ich so den Pulka wieder flott, aber ohne Gestänge leidet die Spurtreue und bergab lässt er sich nicht auf Abstand halten. Zum Glück geht es erst mal nur bergauf. Ich kämpfe mich den Anstieg zum Laxforsberget hinauf, bis ich gegen neun Uhr am Abend den ersten Checkpoint erreiche. Nach dem obligatorischen Medizincheck mache ich mich über den gehaltvollen Kartoffel-Gulasch-Eintopf her, der hier serviert wird. Aufgewärmt und gestärkt geht es kurz vor Mitternacht wieder auf die Strecke.
Ich komme exakt drei Schritte weit, dann bricht der Karabiner der Zugleine. Soll es einfach nichts werden mit mir und dem Arctic Ultra? Nach einer erneuten improvisierten Reparatur mache ich mich an den steilen Abstieg. Drei Mal knallt mir der Pulka in die Hacken und wirft mich in den Schnee. Ihn vor mir den Berg hinuntergleiten lassen geht auch nicht – da laufen ja die Hunde. Frustriert quäle ich mich weiter den Berg hinab. Spektakuläre Nordlichter am Himmel helfen mir über die Strapazen hinweg. Auch die Gesellschaft meiner beiden treuen Begleiter gibt mir Kraft, durchzuhalten.
Der Plan ist, bis zur Bastukojan, einer gemütlichen Hütte mit Ofen bei Kilometer 65, durchzulaufen. Doch als wir etwa bei Kilometer 50 an einem Shelter vorbeikommen, beschliesse ich, es für heute gut sein zu lassen. Neben dem kleinen Unterstand schlage ich unser Lager auf. Auf dem Rentierfell und mit dem Schlafsack als Decke über uns gönnen Erni, Loki und ich uns ein paar Stunden Pause.
Die Sonne strahlt, der Himmel ist blau und die Bastukojan nicht allzu weit entfernt. Gemeinsam mit James – einem meiner Mistreiter beim MLAU – laufe ich über einen zugefrorenen See und geniesse die herrliche Landschaft Lapplands. Als wir an der Hütte ankommen, brennt der Ofen bereits. Kurz darauf bringen mir zwei Helfer mit dem Schneemobil einen kompletten Ersatzpulka inklusive Gestänge. Was bin ich froh! Rasch packe ich meine Sachen um. Nur die zweite Isomatte bleibt zurück – ich bin sicher, diese bei den «milden» Temperaturen nicht mehr zu brauchen …
Besonders gefällt mir am MLAU die Kameradschaft der Teilnehmenden. Von Konkurrenz ist nichts zu spüren, vielmehr läuft man zusammen und achtet aufeinander.
2022 ins Leben gerufen, dürfen die Teilnehmenden dieses Nonstop-Ultralaufs wählen, ob sie die Strecke zu Fuss, auf Skiern oder mit dem Fahrrad bewältigen. Hoch im Norden erwartet die Teilnehmenden ein faszinierendes Winterwunderland – aber auch eisige Temperaturen und aussergewöhnliche Strapazen.
Nach einem Powernap bin ich um 16 Uhr wieder auf dem Trail. Sechs Stunden später erreiche ich den nächsten Checkpoint, das Restaurant in Jockfall. Hier können die Teilnehmenden im Warmen schlafen, absolutes Highlight ist aber der ausgezeichnete Hamburger zum späten Abendessen.
Am nächsten Morgen sind es Erni und Loki, die mich antreiben. Voller Freude und Tatendrang helfen sie mir mit einem leichten Zug am Geschirr durch mein Motivationsloch. Im vergangenen Jahr musste ich in Jockfall aufgeben – das scheint meiner Psyche noch immer zuzusetzen. Doch wenige Stunden später laufe ich durch eine arktische Tundralandschaft, wie ich sie noch nie erlebt habe. Eindrücke, die ich ganz sicher niemals vergessen werde. Nächster Checkpoint ist die «Polar Circle Cabin». Ein Helfer berichtet, dass es vergangene Nacht minus 27 Grad gewesen sei. Hätte ich die zweite Matte besser doch mitgenommen?
Vorsichtshalber möchte ich die nächste Nacht in einer Hütte mit Ofen bei Kilometer 134 verbringen. Müde und erschöpft marschiere ich im Schein meiner Stirnlampe durch die Dunkelheit. Traubenzucker und Riegel halten mich nun gerade noch auf den Beinen. Als ich gegen 22 Uhr am Shelter ankomme, stehen dort schon fünf Pulkas. Die Tür ist defekt, der Ofen aus und drinnen schlafen Karl, Harriet, James, Alla und Ruth. So leise wie möglich quetsche ich mich mit Loki und Erni dazu. Kurz nachdem wir endlich zur Ruhe gekommen sind, brechen die ersten Mitstreiter:innen schon wieder auf. Das wird eine kurze Nacht ...
Am Morgen möchte ich meine Frühstücksriegel mit etwas Wasser aus der Thermoskanne runterspülen, aber ich bekomme sie mit Handschuhen nicht auf. Also versuche ich es ohne. Sofort schiesst ein stechender Schmerz durch meine Finger. Über Nacht war es so kalt geworden, dass in meiner Flasche nur noch ein Eisklumpen steckt und man sofort festfriert, wenn die Haut etwas Metallisches berührt. Das Aussenthermometer neben der Hüttentür zeigt minus 28 Grad – in der Sonne. Später erfahre ich, dass die Temperatur in der Nacht auf minus 35 Grad gefallen war.
Die letzten 24 Stunden sind wirklich hart. Müdigkeit und totale Erschöpfung machen meine Beine schwer. GPS und Handy funktionieren nicht mehr, weil die Kälte alle Akkus leergezogen hat. Stoisch stapfe ich weiter und überlege, noch mal ein Biwak zu machen. Im nächsten Moment werde ich wach und sehe die wackelnden Hintern meiner Hunde vor mir. Ich bin tatsächlich im Gehen kurz eingeschlafen! Die Entscheidung ist gefallen. Am letzten Shelter vor dem Ziel lasse ich Erni und Loki drei Stunden schlafen, trockne meine Kleider am Feuer und schmelze Schnee. Mit einem Liter frischem Kaffee mache ich mich gegen 21 Uhr wieder auf den Weg. Irgendwann – es ist inzwischen tiefe Nacht – sehe ich die Lichter von Överkalix. So nah und doch so fern! Die letzten Kilometer ziehen sich ewig. Doch dann sind wir am Ziel. Ich nehme meine Finisher-Medaille entgegen, platziere Erni und Loki auf dem lieb gewonnenen Rentierfell vor dem Kamin und bin einfach nur glücklich. Extrem erschöpft, hundemüde und viereinhalb Kilo leichter – aber: glücklich!
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